Apuliens Olivenhaine, Jahrtausende alt
An manchen Orten sieht es in Apulien aus wie im Land hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen oder wie im Auenland aus dem Herrn der Ringe. Die Landschaft ist mit schmucken Mauern in viele kleine Gärtchen aufgeteilt, sauber und aufgeräumt. Kein Windkraut sprießt, die kleinen Bäume strahlen in knusprigem, saftigem Grün.
Die putzigen Häuser sind aus groben Steinen locker aufgerichtet. Ihre Dächer sind als schuppige Kegel geschichtet. Gleich könnte der Zauberer Gandalf oder der Hobbit Frodo Beutlin aus einer der windschiefen Türen treten. Doch dann verbirgt sich hinter der Türschwelle doch nur ein Souveniershop voll grässlichen Mandelweins oder eine schicke B&B Unterkunft. So schnell zerschellen Fantasy-Träumerein in Alberobello, Weltkulturerbe und Hauptstadt der Trulli.
Näher an der Küste Apuliens, rund um Ostuni, der weißen Stadt am Meer, tauche ich dann wieder in die fantastische Welt der Märchen. Ich stehe in einem graugrünen Ölbaum-Ozean. Über mir streicht der Wind durchs knisternde Laub. Unter mir dorrt die rote Erde Apuliens. Vor mir knorren, gnurpseln und verschrauben sich archaische Baumwesen in die Breite und in die Höhe. Jeder Baum eine Persönlichkeit, jeder Baum eine geheimnisvolle Geschichte.
Das müssen die Ents sein. Die Baumhirten aus Mittelerde. Sollten die Ölbäume keine Ents sein, so scheinen sie mir doch beseelt. Diese Ulivi Secolari, die Jahrhunderte alten Ölbäume in der Ebene vor Ostuni, gehören zum landschaftlichen Urgestein. 500, 800, 1000, 2500 Jahre wachsen sie schon hier. Italienische Biologen haben das mit Hilfe der Kohlenstoffdatierung erst kürzlich nachgewiesen.
Diese Ölbäume haben aus der Ferne dem Jubel über die Entdeckung Amerikas gelauscht. Sie grünten schon, als der Staufer Friedrich II. im fernen Deutschland vor 800 Jahren zum König wurde. Den Einzug der normannischen Ritter und Edelleute vor über 1000 Jahren haben sie erlebt. Sie waren Zeugen der Schlacht von Canne, bei der Hannibal die Römischen Legionen vernichtend schlug. Was für ein Leben. Was für eine Erinnerung. Wenn diese Ölbäume anfingen aus dem Nähkästchen zu plaudern. Das wäre was.
Brindisi, das Ende der Via Appia
Diese riesige Säule und ihre ruinierte Schwester. Diese prächtige Freitreppen hinunter zum unregelmäßigen Ypsilon des Hafenbeckens von Brindisi. Also das Ende der Via Appia, wenn ich mir diese Königin der Straßen von Rom aus denke, von Osten kommend aber deren Anfang. Das ist einer dieser merkwürdigen realen Orte, die in Wirklichkeit gar nicht mehr funktionieren. Die Wirklichkeit hat die Via Appia schon lange eingeholt, überrollt und massakriert. Es ist so ein Ort, an dem ich das Smartphone aus der Tasche hole und Wikipedia konsultiere. Was war hier los?
Es ist so: Früher war in Apulien mächtig was los. Also bei den alten Griechen und Römern. Brindisi war wichtiger Umschlagplatz für Waren und für Menschen. Lese ich. Römische Legionären haben sich hier eingeschifft, den Osten zu erobern. Legionäre haben überhaupt diese ganzen Römerstraßen gebaut. Der Legionär schuftete sowieso lieber mit der Hacke, als sein Schwert zu gebrauchen. Total vernünftig: Bauen statt Hauen!
Der unermessliche Reichtum des antiken Griechenlands wanderten an diesen Säulen vorbei, quer durch Apulien, Richtung Rom. Und damit die griechische Wissenschaft und Philosophie, die Kunst und die Kultur. Ich fange an zu träumen. Ist auf dieser Treppe am Ende der Via Appia die Idee Europa etwa hoch und runter getragen worden? Identität als ein Export-Import-Produkt?
Heute völlig undenkbar. Im Hafenbecken von Brindisi ist wirklich tote Hose. Immerhin tuckert eine Barke des öffentlichen Nahverkehrs von einem Ufer zum anderen. Eine erschöpfte Dame schlürft einen Caffé unter Sonnenschirmen ganz nah am Kai. Eine Schulklasse lauscht dem Lehrer, der vom Tode des Dichters Vergils erzählt. Im Jahre 19 vor unserer Zeit, in Gesellschaft des Kaiser Augustus, hier am Ende der Via Appia auf der Rückreise von Griechenland. Auch Wikipedia sagt: so soll es gewesen sein.
Apuliens wilder Fenchel – das erste Feuerzeug
Der wilde Fenchel in Apulien. Ziemlich üppig. Im April wächst er einfach überall. Auf Wiesen, am Wegesrand, auf Schotterhalden. Überall. Der wilde Fenchel schießt mannshoch ins Kraut. Entfaltet seine großen Dolden und strahlt in kräftigem Gelb. Apulien leuchtet knallig.
Schon Goethe hat es der wilde Fenchel angetan. Nicht hier in Apulien. Soweit hat sich der Kammerherr aus Weimar nicht in den damals noch wilden Süden Italiens getraut. In Sizilien am Tempel von Segesta hat er den wilden Fenchel bewundert und sich geirrt. Wie alle, die diese Pflanze zum ersten Mal erspähen.
Hätte Goethe seine Nase in die Blüte getaucht, wäre ihm das fehlende Aroma aufgefallen. Hätte er die Blätter in den Händen zerrieben, wären sie ihm krautig vorgekommen. Eben wie beim Gewöhnlichen Rutenkraut (Ferula Communis). Aber aus der Ferne, im Vorbeifahren oder im Antiken-Rausch. Da ist der Irrtum schnell geschehen.
In der Antike war das Gewöhnliche Rutenkraut kein Unkraut, sondern hoch verehrt. Die alten Herren der griechischen Polis schritten würdevoll mit einem Stecken aus Rutenkraut über den öffentlichen Platz, die Agora. Dionysos, der Gott des Weines und des Rauschs, schmückte für seinen Tyrsoistab einen Stengel Rutenkraut mit wildem Efeu. Und Prometeus, der Schöpfer des Menschen, schmuggelte die Glut des Feuers im markigen Stiel des Gewöhnlichen Rutenkrauts aus der göttlichen Schmiede des Hephaistos hinauf auf die Erde der Menschen. War das Gewöhnliche Rutenkraut etwa das erste Feuerzeug der Menschheit?
Und woher kommt der Name des Gewöhnlichen Rutenkrauts? Flapsig gesagt aus seinem zweifelhaften pädagogischen Nutzen als Rute. Mit den trocknen Stengel des Krauts haben schon die Lehrer auf den Straßen des antiken Roms, die über die Via Appia aus Griechenland kamen, auf den Rücken ihrer unwilligen Schüler eingeschlagen. Das tat bestimmt schon ziemlich weh. Heftigen Schmerz und böse Verletzungen muss das Auspeitschen mit erst getrockneten, dann wieder eingeweichten und geschmeidigen Rutenstengeln verursacht haben. Mit dieser Peitsche wurden die unfreien Sklaven gedemütigt und gefoltert.
Santa Maria del Casale in Brindisi
Ganz weit ab vom Schuss, an der Peripherie der Stadt. Fast vergessen hinter dem Nato-Draht des Militärflughafens von Brindisi wacht einsam eine Kirche. Santa Maria del Casale, ein Kleinod. Hier geht die Welt dem Ende zu. An einer Wand entfaltet sich das Jüngste Gericht in seiner gewaltigen Wucht. Der Künstler Rinaldo di Taranto hat es vor 700 Jahren gemalt und zauberhafte Engel, Propheten und Heilige geschaffen.
Wie stelle ich mir das Ende der Welt vor? Ich denke an ein großes Durcheinander, ein Chaos, Lärm und Gestank. Ich sehe Atom-Explosionen und Feuersbrünste. Menschen laufen durcheinander. Häuser stürzen ein, Felsbrocken fliegen, Autos zerbersten. Vielleicht schlägt ein Komet aus dem Weltraum auf die Erde ein oder die Sonne bläht sich auf zu einem riesigen sterbenden Stern, der alles verschluckt. Eben Apokalypse now! Für mich ist das Ende der Welt eine Katastrophe, die die Lebenden erwischt.
Ganz anders aber das Giudizio Universale in Brindisi. Lebende Menschen kommen beim jüngsten Gericht gar nicht vor. Zum Ende der Welt müssen erst einmal die Toten auferstehen. Die erlösten Seelen haben sich im Paradiesgarten – rechts vom Welten-Richter – artig nebeneinander aufgereiht. Links davon rauschen die verdammten Seelen wie auf glühenden Kohlen in die siedenden Höhlen der Unterwelt hinunter. Die Guten schlummern in Abrahams Schoß. Die Bösen werden von einem ekeligen Luzifer unkeusch befingert.
Aber nichts geht hier durcheinander. Kein Chaos ist zu sehen. Rechts, links, oben, unten. Das jüngste Gericht bringt eine neue, glasklare Ordnung hervor. Damit auch jeder merkt, dass eine neue Zeit angebrochen ist, rollen Engel ganz oben schon einmal den Himmel ein, als sei der eh nur Theaterkulisse gewesen.
Warum konnte Langweile vor 700 paradiesisch sein? frage ich mich. Denn für mich heute, in der Ära der endlosen Gegenwart, die die Vergangenheit und die Zukunft zu verschlucken droht, ist die Langeweile, das Nichtstun, das Nichtserleben die absolute Hölle!
Tarent, der Palazzo del Governo
Der Palazzo del Governo in Tarent hat mich richtig überrascht. Als ich das erste Mal vor ihm stand, kam ich aus dem Staunen nicht mehr raus. Ein unvergesslicher Eindruck! Denn der Palazzo ist eine völlig durchgeknallte Architektur-Fantasie, errichtet über den Ruinen des Politeama-Theaters. Und wie Theater- oder Kulissenarchitektur kommt dieser Palazzo Protz dann auch daher. Wer hat sich das bloss ausgedacht? Armando Brasini im Jahre 1934. Auftraggeber natürlich Mussolini. Der hatte sich wahrscheinlich etwas richtig Antikisches gewünscht, das irgendwie nach römischen Castrum aussehen sollte. Heraus gekommen ist dieser Klotz.
Ein Monstrum 52 Meter hoch, 6 Etagen, über 4500 Quadratmeter Grundfläche. Widerliche Herrschaftsarchitektur. Doch aus der historischen Distanz auch komisch. Sieht unfertig aus, denke ich, weil mich das Gebäude aus den dunklen Augenhöhlen von Loggien und Nischen, wie ein buckliger Zyklop anstarrt. In Italien hätte ich so eine Architektur nicht erwartet. Eher in Gotham City.
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Das blaue Meer Apuliens
Tarent liegt am Meer. Brindisi liegt am Meer. Bari liegt am Meer. Apulien besitzt eine über 780 Kilometer Küste. Italiens Stiefelabsatz wird umspült vom Adriatischen Meer und der Ionischen See. Also Meer überall. Seit Jahrhunderten sind Einwanderer und Flüchtlinge über diese Küste nach Italien gekommen.
Und dennoch ist diese Meer für mich immer wieder die größte Überraschung. Unvorstellbar viele Schattierungen von Blau zu Blau. Unbeschreiblich schön. Doch der wortgewandte Tommaso Di Ciaula findet die richtigen Worte: „Wer kann je das schöne Meer vom Salento vergessen? Das Wasser war so sauber und klar, daß du manchmal am Morgen alles auf dem Grund erkennen konntest: pfeilschnelle Fischchen, Garnelen, leise schaukelnde Algenbänke, Krustentiere, die am Meeresboden spazieren gingen.“ Vielleicht werde ich den ein oder anderen Eindruck, den ich hier beschrieben habe, über die Jahre vergessen. Aber das schöne Meer vom Salento? …