Abschied
Wutbürger und Weinberge, Kunst und Kehrwoche, Mittelstand und Migranten, Architektur und Automobilindustrie, Vollbeschäftigung und Volksfeste, Sparer und Spätzle sind die verbreitetsten Klischeebilder der Schwabenmetropole. Für Sirenen-und-Heuler will ich meine Erfahrungen als Neu-Stuttgarterin aufzeichnen und den Eigenheiten dieses Ortes nachspüren. Dabei will ich in loser Folge einzelne Stichworte herausgreifen und in kleinen, persönlichen Vignetten abhandeln. Im ersten Teil geht es um den Abschied von San Francisco und die ersten Wochen in Stuttgart.
Angebot
Angefangen hatte alles im Herbst 2015 mit einem Anruf des Präsidenten der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. In einem langen Telefonat versuchte dieser, den Mann aus Berkeley abzuwerben und für eine Professur am Philosophischen Seminar seiner Institution zu gewinnen. Der Mann bedankte sich höflich für das Interesse an seiner Arbeit.
Zu diesem Zeitpunkt schien uns die Vorstellung San Francisco für Tübingen zu verlassen noch absurd. Allein Ratschläge von Kollegen, der Mann könne mit einem Angebot aus Tübingen in sogenannte Bleibe-Verhandlungen mit Berkeley eintreten führten dazu, dass der Mann im Winter doch eine Bewerbung nach Baden Württemberg schickte. Eine Einkommensverbesserung könnte schliesslich bedeuten, dass wir unseren Kindern möglicherweise auch über die Highschool hinaus eine Ausbildung in den USA würden finanzieren können.
Sinneswandel
Es kam zunächst alles wie erwartet und dann doch ganz anders: der Mann erhielt ein sehr gutes Angebot aus Tübingen und Verhandlungen mit Berkeley führten zu einem guten Gegenangebot. In den dazwischen liegenden Monaten hatte sich jedoch einiges verändert:
Je länger die Idee, wieder nach Deutschland zurück zu kehren, bei uns wohnte, desto attraktiver wurde diese Perspektive. Eine ähnlich gutes Angebot würde wahrscheinlich nie wieder kommen. Und der Zeitpunkt, für einen Schulwechsel der Kindern wäre jetzt ebenfalls besonders günstig. Zudem zeichnete sich deutlich ab, dass die eigenen Eltern in Deutschland zunehmend auf Hilfe angewiesen sein würden. Die Frage, ob wir selber wirklich in den USA alt werden wollten, konnten wir auch nicht mit ja beantworten.
Als dann noch Donald Trump zum Präsidentschaftskandidaten der Republikaner wurde und selbst unsere amerikanischen Freunde begannen, darüber nachzudenken, ob man im Falle eine Falles die USA nicht lieber verlassen solle, entschieden wir uns zu gehen.
Aufbrechen
Wenn eine Familie von fünf Personen von einem Kontinent auf einen anderen umzieht, ist das
- Für die meisten Beteiligten eine emotionale Ausnahmesituation, die angeblich nur von der Belastung durch den Tod eines nahe stehenden Menschen übertroffen wird und
- eine organisatorischer Herkulesakt.
Was im Rückblick wie ein Wirbelsturm aus Graduations, Highschool-Abschluss der Tochter und Middleschool-Abschluss eines Sohnes, Abschiedsparties, Essens-Einladungen, Sperrmüll-Terminen, Staging und Wohnungsverkauf anmutet, war in Wirklichkeit ein minutiös getakteten Ablauf eines Großprojektes an dessen Ende über 350 Umzugskisten und Einzelgegenstände von fünf Latinos in atemberaubender Geschwindigkeit verpackt und in einen riesigen Container verladen wurden.
Wohnen
Unsere Stuttgarter Wohnung haben wir –noch in San Francisco– über ein bekanntes Internetportal gefunden. Wir hatten unseren halbwüchsigen Kindern die Umsiedlung mit dem Versprechen versüßt, jedes werde nun endlich einen eigenen Raum haben. Also suchten wir eine Behausungen mit 4,5 – 5 Zimmern. Aufgrund meiner tiefsitzenden Aversion gegen Vorstadt-Siedlungen und Giebeldächer kamen nur innerstädtische Viertel in Frage.
Der bescheidene Wunsch, die Kaltmiete möge unter 3000 Euro (!) liegen, liess die ohnehin kurze Angebotsliste weiter zusammenschnurren. Zuletzt machten die Umstände eine schnelle Entscheidung notwendig. Unsere neue Wohnung in einem umgebauten Industriegebäude ist großzügig und zentral, kostet aber gut das doppelte von einer vergleichbaren Unterkunft in unserer alten Heimat Berlin.
Glamping
Unsere Reise von San Francisco nach Stuttgart mit dem Flugzeug dauerte 16 Stunden. Die Reise unserer Tische, Stühle, Betten, Decken, Messer, Gabeln, Löffel, Schalen,Teller, Tassen, Bücher, Bilder, Schränke, Tücher und so weiter dauerte 16 Wochen.
Logistisch stellt sich also schon vor dem Umzug die Frage wie und wo man eine Zeit von 3-4 Monaten ohne den eigenen Hausrat verbringen möchte. Wir haben uns entschieden, San Francisco gemeinsam mit dem Umzugscontainer zu verlassen und die erste Zeit in Deutschland zu improvisieren. Hilfreich war dabei der Nachlass meiner im Vorjahr verstorbenen Oma. Deren Haus im Rheinland enthielt gewissermaßen eine Erstausstattung an Matratzen, Handtüchern, Geschirr und Besteck, die ich von einem lokalen Umzugsunternehmer nach Stuttgart bringen lassen konnte. Sollte etwas dringend Notwendiges fehlen, wollten wir es eben neu kaufen.
So hatten wir während unserer ersten Wochen in der Stuttgarter Wohnung, zwar weder Bett noch Schrank, konnten dafür aber mit dem ererbten Silberbesteck und Rosenthal Geschirr auf dem Perserteppich, unserem größten Einrichtungsobjekt, picknicken.
Nachbarschaft
Stuttgart ist eine wohlhabende Stadt. Manche würden vielleicht sagen „satt“. Die Armut versteckt sich. Der Hunger ist unsichtbar. Unsere Nachbarn sind sogenannte Besserverdienende. Von den 16 Parteien im Haus sind wir die einzige Familie mit Kindern. Doch innerhalb der einzelnen Stadtviertel lernt man sich schnell über die unterschiedlichen sozialen Milieus hinweg kennen. Man trifft sich auf Straßenfesten und organisiert gemeinsame Flohmärkte und Hofparties. Von unserem Wohnzimmerfenster aus schauen wir direkt in die Backstube des Bäckers an der Ecke. Kinder geniessen die Freiheit, sich alleine im Viertel und in der Stadt bewegen zu können.
In den USA lebt ein großer Teil der Bevölkerung in sozial homogenen Microkosmen. Das Leben von Mittelschicht-Kindern ist –etwa bis zum Beginn der Highschool mit 14 oder 15 Jahren– von den Eltern durchorganisiert und überwacht: Schule, Schwimmen, Fußball, Klavierunterricht, „Playdate“ – überall wird der Nachwuchs mit dem Auto hingefahren und abgeholt.
Wie sich spätestens in der Wahl Donald Trumps zum nächsten Präsidenten gezeigt hat, ist die Gesellschaft der USA tief gespalten. In unserer ehemaligen Nachbarschaft, dem Mission District von San Francisco ist dies in besonderem Maße zu spüren.
Im „Hipster“-Viertel Mission District mit seinen teueren Restaurants und kunstgewerblichen Kleinstmanufakturen, kämpfen täglich tausende Obdachlose ums Überleben. Junge Latinos (etwa in unserer Straße) werden von Drogenbanden angeworben, liefern sich sinnlose Schießgefechte oder sterben durch die Kugeln überforderter Polizeikräfte.
Der extrem Gegensatz und die größer werdende Schere zwischen Reich und Arm sähen Angst, Misstrauen und Aggression zwischen den gesellschaftlichen Schichten. Im Vergleich dazu ist Stuttgart eine Oase des sozialen Friedens.
Luxus
Der Mann arbeitet in Tübingen. Wir wohnen in Stuttgart, weil ich nicht in Tübingen leben kann (siehe oben). Die Bahnverbindung zwischen Tübingen und Stuttgart ist schlecht. Deshalb haben wir ein Auto. In der Tiefgarage unseres Wohnhauses nimmt sich unser Wagen sehr bescheiden aus. Auf unserer Ebene parken drei Porsche, zwei S-Klasse Mercedes und ein Alfa Romeo Giulia.
Bevor ich nach Stuttgart kam, dachte ich naiv, dass das Auto vor allem in den USA einen grotesk überhöhten Stellenwert hat. So war es für unsere Nachbarn kein Widerspruch, sich selbst als Punkrocker zu definieren und zugleich ihren BMW mit Pappschildern vor möglichen Kratzern zu schützen, die wir ihm eventuell beim Einparken unserer Schrottkiste in der gemeinsamen Garage zufügen könnten.
Straßenverkehr
Autos spielen in Stuttgart bekanntlich eine große Rolle: Daimler, Porsche und ihre Zulieferer sind der wirtschaftliche Motor der Region. Deshalb hat das Auto immer Vorfahrt. Wenn ich auf meinem Weg in die Innenstadt die Hauptstädter Straße überquere, springe ich von einer Verkehrsinsel zur nächsten. Meist muss ich beim Überqueren einer einzigen Straße zweimal im Feinstaubsturm ausharren und auf das grüne Licht der nächsten Fussgängerampeln warten. Vor und hinter mir braust derweil mit 60 kmh der Autoverkehr vorbei.
Was den Straßenverkehr betrifft, wäre die Studenten- und Fahrradstadt Tübingen wohl der bessere Wohnort gewesen.
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Wie geht es weiter?
Kehren und Wiederkehren sind die Stichworte für den 2. Teil von Anias Bericht über Aufbruch in San Francisco und die Ankunft in Stuttgart. Ihre persönlichen Vignetten aus der alten, neuen Welt erzählen von Jahreszeiten, Erfindungsgeist, Fachfrauen und von Schwaben mit einem Besen, Eimer und Kutterschaufel. Online am 20.12.2016.