Der Aquädukt Águas Livres in Lissabon
Plötzlich ist die Großstadt wie weggewischt. Wir betreten einen lauschigen kleinen Garten. Palmen, duftende Blüten, gepflasterte Wege, eine barocke Skulptur –herrschaftliche Anwesen sehen so aus. Heute jedoch folgen wir den Wegen des Wassers, und hier, an diesem Ort, verlief lange Zeit Lissabons Lebensader: der Aquädukt Águas Livres – „freie Gewässer“.
Wo kommt das Wasser her?
Wenn wir reisen, ist Wasserversorgung für uns normalerweise kein Thema. In Lissabon lohnt es sich, da mal genauer hinzugucken:
- weil die historische Architektur, die mit Wasser zu tun hat, ziemlich spektakulär ist.
- führt uns das Wasser von Lissabon in ganz unterschiedliche Ecken der Stadt.
- auf dem Aquädukt herumzuspazieren ist einfach grandios!
Arco Grande heißt der größte der insgesamt 14 gotischen Bögen, die das Alcântara-Tal überspannen. Mit seinen 65 Metern Höhe und 29 Metern Breite ist er zugleich der größte Spitzbogen der Welt.
Im Südosten stehen die hässlichen Türme der Malls von Amoreiras, die mitten in ein altes Stadtviertel gepflanzt wurden. Krasse Gegensätze zwischen Alt und Neu sind in Lissabon keine Seltenheit. Wo einst das Wasser von Lissabon floss, unternehmen wir heute einen Spaziergang über den Dächern der Stadt.
In die andere Richtung sehen wir auf die Ausläufer des Parque Recreativo do Alto da Serafina. Die Häuser gehören zum Bairro da Liberdade (den meisten Lissabonern noch bekannt als Bairro da Serafina). Ein Blick in die Hinterhöfe zeigt, dass hier nicht die wohlhabendsten Leute wohnen. Das Viertel ist durch Schnellstraßen vom Rest der Stadt getrennt.
Eine Wasserleitung von Lissabon
Schon 1571 gab es erste Überlegungen, das Wasser von der stadtnahen Quelle Águas Livres per Viadukt nach Lissabon zu führen. Zu jener Zeit jedoch war an ein solches Bauprojekt überhaupt nicht zu denken. Zwei Jahre zuvor hatte eine Pestepidemie Zigtausende Todesopfer gefordert. 1580 fiel Portugal für 60 Jahre an Spanien.
Goldfunde in Brasilien ließen Lissabon im 18. Jahrhundert wieder aufblühen, die Stadt wuchs auf 200.000 Einwohner heran. Die brauchten alle Wasser. Also holte man die Baupläne für eine Wasserleitung wieder aus der Schublade. 1748, nach 16 Jahren Bauzeit, ging der Aquädukt Águas Livres in Betrieb. Er war eine der bedeutendsten Ingenieurleistungen seiner Zeit, der selbst das verheerende Erdbeben von 1755 überstand – unter anderem deshalb, weil er außerhalb der Stadtgrenzen lag und daher von den Erschütterungen nicht so unmittelbar erfasst wurde.
Von Anfang an nutzten auch Händler die komfortable Brücke über das Tal. Eine charakteristische Erscheinung des 18. und 19. Jahrhunderts waren zudem Träger, die das in Fässer abgefüllte Wasser von Lissabon an den Mann und die Frau brachten. Seit 1967 fließt kein Wasser mehr durch den überdachten Kanal des Aquädukts.
Neben dem Erdbeben trotzte der Arco Grande auch den Auswüchsen moderner Stadtplanung. Seit 1987 ist er wesentlicher Bestandteil des städtischen Wassermuseums, das drei Jahre später mit dem Museumspreis des Europarates ausgezeichnet wurde.
Dass der Erhalt des Bauwerks keine Selbstverständlichkeit ist, zeigt der Blick auf die moderne Infrastruktur. Das Alcântara-Tal ist eine der Hauptverkehrsadern des Großraums Lissabon. Unter dem Arco Grande verläuft eine sechsspurige Schnellstraße. Der Aquädukt stelzt darüber wie ein Technik-Dinosaurier – unangegriffen und erhaben, aber auch isoliert.
Touristen haben Águas Livres noch nicht entdeckt. Uns soll’s recht sein – so haben wir den fantastischen Blick auf den Tejo mit Lissabons modernen Wahrzeichen – der Hängebrücke Ponte 25 de Abril samt Christusstatue Cristo Rei – fast für uns alleine.
Kraftwerk oder Kunstwerk?
Rund 3,5 Kilometer Luftlinie Richtung Südosten, ganz in der Nähe des Lissaboner Hauptbahnhofs Santa Apolónia – liegt ein regelrechter Tempel vergangener Technikzeitalter: die Wasserhebestation von Barbadinhos. Seit 1880 diente es als Hubwerk, um das Flusswasser der Alviela in die Zisternen Verónica und Cisterna do Monte zu leiten. In der ersten Etage des historischen Dampfmaschinenraums herrscht eine geradezu sakrale Stimmung. Rechts und links sind die Schwungräder zu sehen, die diese gewaltige Dampfmaschine einst in Bewegung setzten und ihren Teil dazu beitrugen, dass das Wasser von Lissabon kontinuierlich floss.
Verschnörkelte Geländer, klassizistische Säulen, edles Holz: Hier wird Technik noch zelebriert wie eine Kulturleistung. Heute sprechen wir von Industriekultur und bewundern technische Maschinen als Gesamtkunstwerk. Genau diesen Anspruch hatten sie auch.
Das Ganze muss man sich natürlich dampfend und zischend vorstellen. Das Auf und Ab von Pleuelstangen und Zylindern, das reibungslose Ineinandergreifen komplizierter mechanischer Vorgänge steigerte noch das ästhetische Empfinden des Betrachters. Wir beherrschen die Natur, sagen diese schönen Maschinen. Das Versprechen war schon damals faul, aber mindestens ebenso verlockend.
Das Wasserhebewerk von Barbadinhos ist wie der Aquädukt Àguas Livres Teil des städtischen Wassermuseums. Neben dem Maschinenraum – hier die oberste Etage der Dampfmaschine, die aussieht wie das Schiffsdeck eines Ozeandampfers – bietet das historische Werk auch Platz für Sonderausstellungen. Egal, ob Römerzeit oder 20. Jahrhundert: Die Frage, woher und auf welchen Wegen das Wasser von Lissabon kam und wer es wie verbrauchte, bekommt hier eine handfeste Gestalt. Das beste „Museumsstück“ ist natürlich die stahl- und messingblitzende Dampfmaschine selbst.
Lissabons Unterwelt
Gut verborgen unter dem Jardim do Príncipe Real liegen die Gewölbe des Patriarcal Reservoir. Von 1864 bis in die späten 1940er Jahre verteilte die Zisterne das Wasser, das der Stadt über den Arco Grande zufloss, auf die tiefer gelegenen Stadtteile. Die effektvolle Beleuchtung verleiht der unterirdischen Halle eine geheimnisvolle Atmosphäre, zumal kaum Verkehrslärm eindringt.
Der Principe Rial ist heute fester Bestandteil der Lissaboner Partykultur. Die meisten Besucher haben keine Ahnung, was sich unter ihren Füßen verbirgt. Nur ein unscheinbare Treppe führt zum Eingang zur Zisterne, über dem Gewölbe sprudelt ein Springbrunnen. Ab und zu werden hier unten Ausstellungen gezeigt. Fast schade, dass in dem Bassin kein Wasser mehr steht, aber mit ein bisschen Fantasie hörst du vielleicht noch ein leises Plätschern.