Es gibt diese Stereotypen vom Orient: eng, verwinkelt, alt, ein bisschen schmuddelig, voller Menschen – die Frauen verschleiert, die Männer wollen dir irgendwas andrehen –, laut, bunt, wuselig, winzige Läden und Werkstätten, überhaupt Kunsthandwerk satt, dazwischen Moscheen samt megaphonverzerrter Muezzin-Stimme, nicht zu vergessen die geheimnisvollen Gerüche aus der Gewürzeküche – ein exotischer Basar eben, geradewegs entsprungen aus 1001 Nacht.
Das Verrückte ist: Fès erfüllt diese Erwartungen fast eins zu eins! Was wir aus Kino und Reisekatalogen kennen, materialisiert sich, sobald wir die Medina betreten. So ähnlich müssen sich Toskanabesucher fühlen, die plötzlich genau die malerischen Zypressenalleen vor der Nase haben, die jeder schon mal irgendwo als Bild gesehen hat.
Fès-Erlebnis mit Hindernissen
Klingt also so, als sei in Fès alles in Ordnung. Ist es aber nicht – jedenfalls nicht für die Bewohner. Die freuen sich zwar, dass so viele Besucher kommen, aber leben können sie davon immer schlechter. Das kommt daher, dass die meisten Touristen ihr Geld im Hotel ausgeben statt im Laden oder auf der Straße. Sie haben ja auch kaum Zeit. Marokko steckt voller Highlights und die herkömmliche Rundreise – egal ob pauschal oder individuell – ist so konzipiert, dass möglichst viel Programm in möglichst wenige Tage gesteckt wird. Aber die Medina von Fès ist kein Produkt von der Stange. Und die Waren, die dort angeboten werden, erst recht nicht.
Und es gibt noch ein Problem: die Sprache. Arabisch können ohnehin die wenigsten Besucher, das erwartet auch niemand in Fès. Wer ins Gespräch kommen will, muss Französischkenntnisse mitbringen. Englisch dagegen hilft nur in Ausnahmefällen weiter. Damit stehen die meisten Touristen aus Europa und Nordamerika vor einem Dilemma.
Das bremst den Enthusiasmus. Dazu kommt der gesunde Respekt vor einer Kultur, die sehr sinnlich daherkommt und obendrein das Label „Islam“ trägt. Allein davon bekommen manche eine wohlige Gänsehaut – sonst wär’s ja nicht exotisch.
Touristische Themenrouten als Wirtschaftsförderung
Da muss etwas geschehen, sagten sich die Verantwortlichen im Handwerksministerium, und gaben 2010 eine Studie in Auftrag. Deren Empfehlung: beschilderte Themenrouten durch die Medina von Fès. Die sollen Berührungsängste abbauen und den Entdeckerreiz der Touristen wecken. Die Hoffnung: Wer sich auf die Stadt einlässt, hat vielleicht eher das Bedürfnis, echte Erinnerungsstücke zu kaufen statt billigem Ramsch.
Mit Hilfe von Geld und Know-how aus dem Ausland und dank engagierter marokkanischer Fachkräfte dauert die Realisierung des Projekts Themenroute kaum mehr als zwei Jahre. Heute führen sechs Rundgänge durch Fès, von denen mindestens drei um die lokale Handwerkskunst kreisen. Zeitgleich wurden die Themenrouten in Marrakesch umgesetzt, denn dort ist die Lage ganz ähnlich.
Die Medina als Lebenszentrum
„Ya Hassan“, gellt es alle Nase lang an unser Ohr. Wir tun etwas, das jeder andere Tourist auch tun kann: Zusätzlich zu den beschilderten Routen nehmen wir die Dienste eines lokalen Führers in Anspruch – je nachdem, welchen Guide man erwischt, kann das den Erlebniswert erheblich steigern. Hassan El Jannah ist in Fès bekannt wie ein bunter Hund. Er gehört zum Inventar, kennt jeden Palast, jeden Straßenwinkel, jedes Gesicht und alle Geschichten. Er ist Teil der verschlungenen Verwandtschaftsbeziehungen, die sich wie ein kompliziertes Ornament über die Altstadt legen.
Andererseits hat Hassan auf seine alten Tage etwas gemacht, das eigentlich ganz unvorstellbar ist für einen Bewohner der Altstadt von Fès: Er hat die Medina verlassen. Andernorts in der arabischen Welt mag es ja üblich sein, dass die Leute lieber in komfortable Neubauten ziehen und ihren verwinkelten Altstadthäusern keine Träne nachweinen. Hier in Fès ist das anders.
Das haben die Planer der UNESCO erlebt, als sie am grünen Tisch beschlossen, Familien aus der alten Medina umzusiedeln. Den Denkmalschützern waren die Häuser zu voll mit Menschen, sie wollten gern die ursprüngliche Belegung der historischen Gebäude wiederherstellen – oder das, was sie dafür hielten. Sie dachten dabei an die Bausubstanz, alles sollte so geschichtstreu wie möglich sein. Aber die Bewohner fanden die Geschichte nicht so wichtig wie ihr eigenes Wohlergehen. Bis heute, mehr als 30 Jahre nach der Erklärung der Stadt zum Weltkulturerbe, sind kaum 100 Familien ausgezogen. Denn die Medina ist nicht nur Heimat, sondern auch Lebensgrundlage.
Gerber und Satellitenschüsseln
Warum ist Hassan aus der Medina ausgezogen? „Weil es zu eng wurde.“ Leicht ist es ihm nicht gefallen, was leicht daran zu erkennen ist, dass er sich in den Gassen wir ein Fisch im Wasser bewegt. Mit seinem Job als Touristenführer hat er es gut getroffen. Andere haben es schwerer, die Gerber zum Beispiel. Die sind zwar berühmt, aber arm und arbeiten unter Bedingungen, die man auf den Bildern zum Glück nicht riechen kann. Wer den Blick auf die Färbewannen der Gerberei Chouara wünscht, steigt erst mal ein paar Stockwerke in die Höhe, um Abstand vom Gestank der Gerbertunke zu gewinnen, und tunkt die Nase zusätzlich in eine duftende Blüte.
Das dämpft die Exotik ein wenig und ist als Erfahrung ganz heilsam. Zudem hält der strenge Geruch allzu kecke Besucher davon ab, sich für Nahaufnahmen näher heranzupirschen. Dass die Satellitenschüsseln auf den Hausdächern des benachbarten Stadtteils nicht so recht ins Orientbild passen, mag manchen stören. Tatsächlich sind die Schüsseln wohl genau da, wo sie gebraucht werden.
Handwerkskunst als Weltkulturleistung
Ohne Geruchsbelästigung, aber ebenso hart arbeiten die Teppichknüpferinnen. Ihre Art des Knüpfens entspricht der iranischen Technik und ist sehr kunstvoll. Bis zu zehn Stunden pro Tag sitzen die Frauen vor den aufgespannten Fäden.
Die Hände arbeiten so schnell, dass die Kamera kein scharfes Bild zustande bringt – mit bloßem Auge können wir den Bewegungen schon gar nicht folgen.
Unten im Haus liegen, stehen, hängen die Ergebnisse ihrer Arbeit. Satte Farben, kleinteilige geometrische Muster, weiche, flauschige Teppiche, in denen der Fuß förmlich versinkt, und harte, robuste Gewebe aus Ziegenhaar in der Tradition der Wüstenvölker füllen den hohen Raum bis unter die Decke aus. Schon bald ist von dem schönen, mit stilisierten Blütenmustern versehenen Marmorboden nichts mehr zu sehen.
Manchmal wissen wir gar nicht, wo der Teppich aufhört und die Verzierung der Säule anfängt. Nicht jedes Haus in Fès kann mit diesem „Teppichpalast“ und seinen fein ziselierten Reliefs mithalten. Trotzdem gibt es um die nächste Ecke immer noch eine Steigerung und fast alles ist gut erhalten. Wenn ein Ort den Rang eines Weltkulturerbes verdient hat, denken wir, dann dieser hier.
Alles hat seine Ordnung. Zertifizierte Teppiche, lernen wir, tragen eine Art Pass. Darauf sind Herstellungsdatum, Muster und Größe vermerkt, wichtiger aber noch sind Produktnummer und Kennung des autorisierten Exporthändlers. Der Hausherr spendiert süßen Tee, Hassan unterhält sich mit allen gleichzeitig und wieder haben wir dieses Gefühl à la 1001 Nacht.
Der Wert der Arbeit ist keine Frage der Perspektive
Wenn es um marokkanische Handwerke geht, dürfen Babouches nicht fehlen: weiche, vorne spitz zulaufende, ursprünglich gerne mit Stickereien und Stempelvergoldungen verzierte Pantoffeln. Heute geht kein Trend und keine Modefarbe an ihnen vorbei, selbst im schwarzbunten Rinder-Look sind sie zu haben.
An den Babouches wird nebenbei deutlich, wie schief Tourismus gehen kann. Der Durchschnittsbesucher sieht darin ein Massenprodukt, das es mittlerweile überall auf der Welt gibt. Trotzdem ist es etwas Besonderes, seine Babouches in der Medina von Fès zu kaufen. Und billig ist es obendrein, schließlich ist man ja an der Quelle und beherztes Feilschen drückt den Preis noch einmal. Am Ende wechseln die Pantoffeln für 25 Dirham – umgerechnet rund 2,30 Euro – den Besitzer und werden vom Touristen als Erfolg verbucht. Dass selbst geübte Handwerker für ein Paar Babouches viele Stunden brauchen und allein das Gerben und Färben des Leders Kosten verursacht, spielt aus dieser beschränkten Schnäppchen-Perspektive keine Rolle. Das sind die Zusammenhänge, um die es den neuen touristischen Themenrouten geht.
Neue Themenrouten als Gemeinschaftsprojekt
Auf dem weiteren Rundgang begegnen den verschiedensten Handwerken. Der Ziselierer überzieht eine blanke Messingplatte präzise und traumwandlerisch sicher mit einem komplizierten Blumenmuster. Dabei verzieht er keine Miene, er scheint sich geradezu zu langweilen. Abstumpfung? Vielleicht liegt’s auch am fortgeschrittenen Nachmittag.
Was bei der Metallbearbeitung an Kunstwerken herauskommen kann, zeigt ein Lampenladen ganz in der Nähe. Wir gehen ganz dicht dran, um uns zu vergewissern, dass das auch wirklich Metall ist und nicht aufgespannter Stoff. Wie soll man da noch mit Ikea-Lampen leben?
Es gibt auch Schmiede fürs Grobe. Hier wird geflickt, repariert, gehämmert, gelacht, geschwitzt, gelästert. Die ganze Place Seffarine ist eine einzige Schmiedewerkstadt und natürlich ein Anziehungspunkt für Touristen. Die neuen Themenrouten sollen die bisherige Situation – hier mürrische Handwerker, die beim Arbeiten nicht gern ungefragt fotografiert werden, dort mit Kameras bewaffnete Besucher – im Idealfall entschärfen: vor allem dadurch, dass beide Seiten mehr übereinander erfahren. Da ist auch die Offenheit der Stadtbewohner gefragt. Die wurden denn auch in die Planung der Rundgänge mit einbezogen. Für viele mag es das erste Mal gewesen sein, dass ihr täglicher Beitrag zur kulturellen Bedeutung von Fès offiziell gewürdigt wurde.
Eines hat unsere „Expedition“ in die Medina von Fès gezeigt: Das Handwerk dort lebt noch. Allerdings wird das nur so bleiben, wenn der oft hohe handwerkliche Wert der Produkte – vom Brot bis zum Teppich – auch anerkannt wird. Wer einschätzen kann, welche Arbeit und Kunstfertigkeit hinter einem Paar Babouches steckt, wird dafür gerne einen fairen Preis zahlen. Je mehr Besucher das so sehen, desto eher sind die Handwerker von Fès zu retten.
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Reisetipps Fès
Es gibt derzeit sechs geführte Rundgänge durch Fès. Die Themen:
- Stadtmauer und Festungen
- Kunsthandwerk
- Monumente und Basare
- Wissen und Geschicklichkeit. Rundgang zum Thema kunsthandwerkliche Traditionen und ihre Vermittlung
- Paläste und Gärten
- Fèz jdid. Die alte Königsstadt
Jeder Rundgang hat seine eigene Farbe. Hinweisschilder erleichtern die Orientierung im Gewühl der Gassen – im Bild unten grün umrandet. Zusätzlich gibt es an verschiedenen Stellen der Altstadt große Tafeln, auf denen die einzelnen Routen eingezeichnet sind. Weitere Tafeln mit Erklärungen zu bestimmten Plätzen und Gebäuden sind über die gesamte Medina verteilt. Smartphone-Nutzer erhalten über QR-Codes auf Wunsch ausführlichere Informationen.
Faltpläne der Altstadt mit den eingezeichneten Themenrouten samt Beschreibung sind auf Englisch und Französisch in den meisten Hotels und Unterkünften erhältlich. Wer Fès noch intensiver kennenlernen möchte, unternimmt den ersten Stadtrundgang in Begleitung eines lizenzierten lokalen Führers und probiert die Themenrouten erst im Anschluss aus.
Die Rundgänge sind für Besucher ein echter Gewinn. Die schiere Größe der Medina führt sonst leicht dazu, dass man sich verzettelt und an vielen spannenden Orten einfach vorbeiläuft. Durch den thematischen Fokus ist auch die Reizüberflutung nicht so groß – wer zum ersten Mal nach Fès kommt, weiß oft gar nicht, wo er zuerst hingucken soll.
Der entscheidende Mehrwert der Themenrouten: Sie bieten Handwerk zum Anfassen! Das schließt auch die lange Tradition ein, die die Stadt in dieser Hinsicht zu bieten hat. Wir alle gucken gerne dabei zu, wie ein Teppich oder eine Ziselierung entsteht. Genauso lieben wir verwinkelte Märkte oder stöbern in vollgestopften Läden. Und der Anblick üppig verzierter Fassaden, Innenhöfe, Stadttore und Parkanlagen versetzt uns immer wieder in Staunen. Das alles gibt es in Fès in Hülle und Fülle. Die Themenrouten treffen daraus eine Auswahl. Dabei führen sie uns jeweils den gesamten Lebenszyklus eines Werkstücks vor Augen: von der Herstellung über den Verkauf bis zur Verwendung als Bauschmuck oder Interieur.