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Ostersonntag in Lissabon. Wir steigen am Cais do Sodré aus der U-Bahn und wundern uns über lange Schlangen oben in der Eingangshalle. Ausschließlich Touristen. Auf der Av. 24 de Julho, einer der wichtigsten Verkehrsadern in Lissabon, wollen wir den Bus nach Restelo nehmen. Die Haltestelle ist voller Menschen. Wir hören Deutsch, Englisch, Spanisch, Japanisch, nur kein Portugiesisch. Alle wollen nach Belém – zum Mosteiro dos Jerónimos, zum Torre de Belém, zur Konditorei Pastéis de Belém und wie die gängigen Highlights und Geheimtipps alle heißen, die analog und digital angepriesen werden.
Auch unser Bus fährt über Belém, wir kommen nur mit Mühe hinein, weil alle drängeln. Etwas weiter flussaufwärts, etwa auf Höhe des Bahnhofs Santa Apolonia, hatten wir zuvor zwei Kreuzfahrtschiffe liegen sehen. Aber das hier sind keine Kreuzfahrer, das sind die berühmten Individualtouristen, zu denen auch wir zählen. Ihr Guide ist das Smartphone. Das zeigt ihnen das „authentische“ Lissabon. Da fehlt keine Attraktion, aber es kennt auch den Weg zu den „hidden gems“ in der hinterletzten Ecke der historischen Stadtviertel. Und erklärt, wie man mit öffentlichen Verkehrsmitteln hinkommt. Eigentlich nicht schlecht, oder?
Digitale Geheimtipps sind ein Schmarrn
Das kann natürlich nicht funktionieren. Doch die Sehnsucht nach Highlights, die gerade unseren Urlaub zu etwas Einzigartigem machen sollen, verführt uns dazu, das Offensichtliche auszublenden: Die Tipps und Infos, die wir ausprobieren, sind als digitale Angebote für alle verfügbar. Wir rufen sie auf Portalen ab, die den globalen Reisemarkt beherrschen. Trotzdem werden sie erfolgreich als individuelle Erlebnisse vermarktet. Und wir glauben das. Wir posten unsere Fotos, schreiben unsere Bewertungen und vervielfältigen unsere Erlebnisse im Netz.
Dabei ist alles digital vorgekaut. Vielleicht brauchen wir ja auch längst die Schlangen vor den vermeintlichen Geheimtipps und Highlights, um uns bestätigt zu fühlen. Entsprechend wächst das Angebot. Airbnb preist seine „Entdeckungen“ an, Expedia fährt „Local Experts“ auf, Tripadvisor spricht von Aktivitäten und Booking.com will Urlaubserlebnisse unter dem Label „Experiences“ schon bald als eigenständige Produktgruppe anbieten.
Jetzt macht auch Google mit seinem Touringbird ernst. Die Plattform will Reisenden nach eigener Aussage helfen, „Touren, Tickets und Aktivitäten von einer Vielzahl von Anbietern in Top-Urlaubszielen der Welt zu entdecken, zu vergleichen und zu buchen – alles an einem Ort“. Das „Testprogramm“ listet neuerdings 200 Destinationen auf, darunter überwiegend Städte und Metropolen, aber auch Reiseziele wie Bali, Madeira oder Mallorca. Die insgesamt 75.000 buchbaren Reiseerlebnisse liefern Online-Portale wie Getyourguide, Viator oder Musement, aber auch unter Vertrag genommene Blogger. Geplant ist ein massiver Ausbau des Angebots.
Digital und fatal: Highlights von der Stange
Wenn wir uns alle aus demselben Digital-Pool bedienen, wird’s eng. Beispiel Amalfi: Sowohl Tripadvisor als auch Airbnb und Touringbird empfehlen den Sentiero degli Dei – Pfad der Götter – zwischen den kleinen Ortschaften der Umgebung mit spektakulären Blicken auf die Küste. Booking.com erwähnt ihn unter seinen Hotelangeboten auch, allerdings sehr versteckt und ohne Detailbeschreibung oder Preisangebot. Das Ergebnis: Alle wollen dieses „einzigartige“ Abenteuer erleben – und finden sich wieder zwischen lauter Gleichgesinnten.
Touringbird hat deshalb gleich mal vorgesorgt und bietet für alle, die der überfüllten Geheimtipps und Highlights überdrüssig sind, eine Art Ersatzerlebnis auf einem Geheimpfad an. Begründung: „In der Hochsaison drängeln sich die Menschen auf dem berühmten Pfad der Götter („Sentiero degli Dei“), einem 15 Meilen langen Wanderweg entlang einem Bergrücken zwischen Agerola und Positano. Auf diesem malerischen Spaziergang dagegen, der von dem Bergdorf Ravello hinunter nach Minori führt, gibt es keine Menschenmassen.“
Wie lange noch? Und wie wird es in den berühmten Agrumengärten der Region zugehen, wenn jetzt schon 192 Internetnutzer ein Highlight wie die Erlebnisse auf einem sorrentinischen Bauernhof mit Verkostungen, Pizzabacken und Limoncello mit insgesamt 4,9 von 5 Punkten bewerten? Wahrscheinlich ähnlich wie in der Villa Rufolo in Ravello, wo wir digital aufgefordert werden, ein Pflichtfoto von der Küste aufzunehmen, mit dem wohl meist fotografierten Baum Italiens im Vordergrund.
Bali, Lissabon, Köln: Jagd nach Geheimtipps
Für Bali, das asiatische Pendant von Mallorca, reicht das Angebot auf Touringbird von Schlamm-Wrestling bis zum Schnorcheltrip vor den Nachbarinseln Lembongan und Penida. Vor einem Jahr machte auf YouTube ein Tauchvideo Furore, das just in den Gewässern von Nusa Penida ein Meer von Plastikabfällen aufdeckte. Geradezu alarmierend klingt das Bali Quad Bike Adventure, das sogar eine Zipline-Fahrt über terrassierte Reisefelder verspricht.
Für Köln sind die Geheimtipps auf Touringbirds eher mau. Airbnb schlägt mangels Masse – oder weil es an geeigneten Blogbeiträgen fehlt – sogar vor, das benachbarte Bonn mit einer Fotografin zu besuchen. Wer wie ich in Köln wohnt, kann da nur müde lächeln.
Die Highlights für Lissabon wirken auf den ersten Blick auch nicht gerade spektakulär. Immerhin wird ein Spaziergang auf dem Aquädukt Águas Livres empfohlen – den haben wir auch hier in unserem Blog ausführlich beschrieben. Angst und bange wird mir bei dem angepriesenen Spaziergang durch verschiedene Altstadtviertel – immer häufiger verstopfen Besuchergruppen die Bürgersteige in Gegenden, in die sich vor ein paar Jahren kaum ein Tourist verirrte. Und richtig gruselig wird es bei der Empfehlung, doch unbedingt ein Mehrgangmenü für fünf Euro in einem Lokal mit lauter Einheimischen zu probieren. Schon jetzt klagen Lissabonner, dass es immer schwieriger wird, Restaurants zu finden, die nicht von Touristen gekapert wurden.
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Wollen wir wirklich so reisen?
Wer glaubt, auf Massenplattformen wie Google Touringbird, Airbnb und Co. authentische Urlaubserlebnisse zu finden, ist – gelinde gesagt – naiv. Und selbst wenn ein dort angepriesenes Highlight wirklich noch ein Geheimtipp ist, tragen wir durch unseren Besuch dazu bei, dass es zum Mainstream wird und seinen Charme verliert. Gibt es denn keinen Ausweg aus dem Dilemma?
Doch, es gibt ihn – wir sind nicht machtlos. Ein erster Schritt ist, sich nicht von den großen Playern vorschreiben zu lassen, was ich im Urlaub erleben muss und was nicht. Touringbird, Airbnb und andere digitale Plattformen machen lokale Tourismusangebote eher kaputt, statt sie zu fördern, auch wenn sie das Gegenteil behaupten. Mit Locals ins Gespräch zu kommen und mehr Zeit mitzubringen als ein Wochenende ist meistens der bessere Weg zu persönlichen Entdeckungen. Und warum müssen das immer gleich Geheimtipps sein? Es muss schließlich mir gefallen. Was andere Touristen davon halten, spielt doch überhaupt keine Rolle.
Gefordert sind außerdem die Tourismusverantwortlichen in den Destinationen. In einem meiner letzten Beiträge hier auf Sirenen & Heuler ging es um die Frage, ob kluges Kulturmanagement gegen Overtourism hilft. Tourismusströme sind kein Schicksal, sie werden gesteuert und lassen sich umsteuern.
Wir haben es letztlich selbst in der Hand. Ich will keine vorgekauten Urlaubserlebnisse, und Geheimtipps haben mich schon immer misstrauisch gemacht. Im Urlaub ist es wie sonst auch: Nicht alles ist super, und manchmal machen wir eben schlechte Erfahrungen. Aber auch das ist authentisch. Wenn wir aufhören, vom Urlaub nur Highlights zu erwarten, brauchen wir keine digitalen Empfehlungen von der Stange.