Ein Katzensprung ins Abenteuer
Nennen wir ihn Tom. Kurze Hosen, kariertes Hemd, graues Haar, Lachfalten. Er ist der einzige Mensch, der hier herumläuft. Ansonsten gibt’s nur Boote und Lagerhallen. Hastig schildern wir unsere Lage. Wir laufen Gefahr, die Fähre zu verpassen, weil wir im Hafen dem falschen Abzweig gefolgt sind. Nun trennt uns ein langgezogenes Hafenbecken von dem Schiff, das wir nur über einen großen Umweg erreichen können. Die Zeit rennt uns davon. Wir sehen uns schon auf Jersey übernachten.
Tom zögert keinen Augenblick, als er die Situation begreift. Ein Taxi? Darauf würde er sich nicht verlassen, sagt er. Seine Hände tragen noch die Spuren der Arbeit an seinem Boot. Damit hat er den sonnigen Tag verbracht. Entspannt winkt er uns, mit ihm zu kommen, schleppt Kisten voller Werkzeug von der Rückbank seines geräumigen Geländewagens in den Kofferraum, entschuldigt sich für den Schmutz auf den Polstern und bringt uns ohne viel Federlesens zum richtigen Hafenterminal. Wir erreichen die Fähre ohne Mühe. Wenn Dankbarkeit ein roter Teppich wäre, wir würden Toms Weg damit pflastern – bis zur Schwelle seiner Haustür.
Normalerweise kommt ein Tagesausflug von Saint-Malo auf die englische Kanalinsel Jersey ganz ohne Nervenkitzel aus. Die Überfahrt mit der Fähre dauert kaum mehr als eine Stunde. Ein Katzensprung. Außerdem haben zwei von uns noch nie britischen Boden betreten. Die Gelegenheit ist also günstig. Der Trubel auf der schnittigen Katamaran-Fähre – diverse Schulklassen, das lautstarke Hin und Her der Passagiere, der Ansturm auf den Duty Free Shop – nährt schlimme Befürchtungen. Hat es sich gelohnt, für diese Butterfahrt in aller Herrgottsfrühe aufzustehen?
Tipp 1: Die Hauptstadt links liegen lassen
Wir werden sehen. Um sieben Uhr stechen wir von Saint–Malo aus in See und genießen den Anblick der wehrhaften Altstadt, die uns nach drei Urlaubstagen schon so vertraut vorkommt. 75 Minuten später legen wir in St. Hellier an. Die Hauptstadt von Jersey ist unspektakulär. Beeindruckend ist vor allem der frühmorgendliche Verkehr, der munter fließt, obwohl wir dank Zeitverschiebung eine Stunde in der Zeit zurückgereist sind. Die Touristeninformation hat noch geschlossen.
Wir vertreiben uns die Wartezeit mit einem Spaziergang zur Strandpromenade, registrieren das Länderkennzeichen GBJ – J für Jersey – an den Autos und passieren mehrere Geldinstitute. Die Insel genießt Steuerprivilegien und gerät immer mal wieder als Steueroase ins Gerede. Doch dieses Business scheint sich ausschließlich auf St. Hellier zu beschränken. Der Rest ist ausgesprochen ländlich und kein bisschen mondän.
Tipp 2: Inselstudien im öffentlichen Bus
Das stellen wir fest, als wir nach kurzer Beratung im Touristenbüro mit dem Bus zum Tierpark Durell im Norden der Insel fahren. Ein ausgezeichneter Plan, wie sich rasch erweist. Mit öffentlichen Bussen zu fahren ist im Urlaub ohnehin eine gute Idee. Das gilt auch für Jersey.
„Möchten Sie sich setzen?“, fragt der nicht mehr ganz junge Fahrgast die beleibte Oma. Die lässt sich daraufhin dankbar auf den Sitz sinken und schafft es trotz ihres Umfangs sogar, den zweijährigen Enkel auf dem Schoß unterzubringen. Ein Buspassagier mit etwas einfältigem Gemüt wiederholt immer wieder denselben Satz: dass der frühere Bus besser sei, weil da keine Touristen drin säßen. Niemand nimmt es ihm übel. Niemand nimmt ihn ernst. Immerhin hat er einen Sitzplatz ergattert und damit eigentlich keinen Grund zur Klage. Im Übrigen hält sich die Zahl der Touristen in Grenzen – wir haben nicht das Gefühl, dass sich sonst jemand an uns stört.
Auf den Straßen von Jersey herrscht britischer Linksverkehr. Ziegelmauern begrenzen das schmale Asphaltband, das sich durch sanftes Hügelland schlängelt. Wir sehen viele Kartoffeläcker, auf manchen wird gerade geerntet, zum Teil noch von Hand. An einer Kreuzung steht eine verwitterte alte Kirche mit einem Dorffriedhof davor. Zwischen den Gräbern leuchtet frühlingshelles Grün.
Plötzlich geht es bergab. Eine romantische Bucht mit kleiner Hafenmole und ein paar Häusern tut sich vor uns auf. „Irgendwelche Passagiere nach Rozel Bay?“, ruft der Fahrer nach hinten und intoniert das Bay für Bucht mit einem breiten A. Nein, niemand. Noch nicht jedenfalls, denken wir, denn der Ort sieht so umwerfend aus, dass wir uns vornehmen, auf dem Rückweg hier Station zu machen.
Tipp 3 (Jersey für Naturfans): Durrell Wildlife Park
Der Tierpark Durell ist bald erreicht. Eher klein, dafür aufs Sorgfältigste gepflegt, empfängt er seine Gäste. Unser Sohn gerät – wie immer, wenn er Tiere sieht, – aus dem Häuschen. Ihm haben wir es zu verdanken, dass wir uns mit Zoologischen Gärten bestens auskennen, in Deutschland und anderswo. Nun also Durell auf Jersey. Der Park trägt den Namen seines Gründers, der auf der ganzen Insel verehrt wird. In den 1960er Jahren war Gerald Durrell einer der ersten und hartnäckigsten Verfechter der Idee, Zoos zu einem geschützten Lebensraum für bedrohte Tierarten zu machen. Seine Zuchtprogramme mit dem Ziel der Auswilderung haben weltweit Maßstäbe gesetzt.
Wir hören zum ersten Mal von Jerseys Vorreiterrolle für den Artenschutz. Die großzügige und parkähnliche Anlage der Gehege fällt gleich ins Auge. Am nachhaltigsten beeindruckt uns das Haus der Flughunde. Wie große Lappen hängen sie von der Decke eines langgestreckten Raumes, der ein wenig an ein Gewächshaus erinnert. Ab und zu klettert eines der ledrigen Tiere kopfüber zu einem Wasserbehälter. Andere Flughunde segeln unvermittelt durch die Halle, um sich anderswo nieder- bzw. hängenzulassen. Manchmal geraten sie in Streit, dann gibt es ein Gezeter, das sich wie eine Mischung aus Pfeifen, Fiepen und Quietschen anhört. Ansonsten herrscht gespenstische Ruhe, die allerdings mit dem Eintritt einer Schulklasse ein vorläufiges Ende findet.
„Bats, bats“, rufen die Kinder und benutzen dabei dasselbe breite A wie der Busfahrer, „Fledermäuse, Fledermäuse“. „Ich liebe Fledermäuse“, „da fliegt eine“, „guck mal da“, tönt es wild durcheinander. Allerdings werden die Kinder rasch leiser, ermahnt von den energischen Zischlauten der Lehrerin. Die besondere Atmosphäre des Fledermaushauses tut ein Übriges. Sie lässt Besucher instinktiv die Stimme senken. Ziemlich exotisch, dieses Stück Jersey!
Tipp 4: Zeit mitbringen für die Nordküste
Der Sohn äußert Hungergefühle. Wir könnten alle eine Stärkung gebrauchen. Also setzen wir den Plan in die Tat um, auf dem Rückweg in Rozel Bay auszusteigen und dort auch gleich zu essen. Über einen Kiesstrand – es ist Ebbe – gelangen wir zur Mole und sehen schon von weitem gut besetzte Tische und Stühle. Sie gehören zu einer Bude mit der Aufschrift „Hungry Man“ – „Hungriger Mann“.
Das passt, Jersey macht Appetit und die salzige Meerluft auch. Leider gibt es außer Krabben-Sandwiches nichts, was mit dem Meer zu tun hat. Drei von uns bestellen sie hoffnungsvoll. Die Krabben sind prima, nur das Brot drum herum schmeckt wie Pappe und klebt am Gaumen. So ist das in England. Die Tochter ficht das nicht an. Sie stillt ihre ungehemmte Vorliebe für Fleisch mit einem umfangreichen Hamburger, zusätzlich garniert mit einer ordentlichen Scheibe Schinkenspeck.
Die Interessen sind eben verschieden, auch im Hinblick auf das weitere Programm. Als wir die Absicht äußern, zu Fuß ein bisschen die Küste von Jersey zu erkunden, äußert der Nachwuchs abweichende Wünsche. Der eine will am Strand nach Muscheln suchen, die andere in aller Ruhe den Hamburger verdauen und dabei ein E-Book lesen.
Also überlassen wir die Kinder sich selbst, steigen die Straße hinauf, die sich gleich hinter dem kleinen Hafenort in die Höhe windet, und haben schon bald eine Szenerie vor Augen, die wir so überhaupt nicht erwartet hatten. Unter uns breitet sich eine Bucht, deren kahle, sporadisch von niedrigem Buschwerk bewachsene Felsen zu einer spiegelglatten See hinabsteigen. Die Farbe des Wassers changiert zwischen azurblau und türkisgrün. Der Ginster blüht, am Himmel keine Wolke.
Magnetisiert folgen wir einem Pfad entlang der Küste und fühlen uns an Bilder von Schottland erinnert. Aber wir sind immer noch auf Jersey. Schmetterlinge flattern, Blumenduft steigt uns in die Nase, Bienen summen – ein bukolisches Vergnügen! Warum bloß haben wir nicht mehr Zeit?
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Tipp 5 (für alle mit wenig Zeit): Wiederkommen!
Pünktlich nach Fahrplan nimmt uns der Bus wieder auf und bringt uns zurück nach St. Hellier. Dort geben wir die letzten Pfundnoten für Fish and Chips aus – und sehnen uns augenblicklich auf das kulinarische Festland zurück! Tom sorgt dafür, dass wir auch wirklich dort ankommen. „Zu Hause“ in Saint-Malo trinken wir ein Glas Wein auf ihn. Jersey ist jede Reise wert. Wir arbeiten an einem Comeback.