Tallinn – Die Hauptstadt Estlands
Der Herbst ist da, der Winter kommt ganz bald. Also Zeit, meinen schönen Sommer noch einmal Revue passieren zu lassen, um mich innerlich an den Erinnerungen zu wärmen. Im Sommer habe ich schon mal kräftig über Tallinn, die Hauptstadt Estlands, geschwärmt. Tallinn war tatsächlich ein richtiges Highlight! Ich habe dort viel Marzipan und Sauerkraut gegessen und beim Bummeln durch die Stadt unglaublich viele Dinge gesehen, die mich außerordentlich überrascht haben. Da, wo prächtige Sonne ist, gibt es allerdings auch Schatten. Der eine oder andere ist auch auf Tallinn gefallen.
Sommer in Tallinn. Ein früher Sonntagmorgen. Die Morgensonne kitzelt mit den ersten sanften Strahlen die noch matten Fassaden wach. Autos sind keine unterwegs. Ein paar Leutchen schlendern durch die Straßen. Die meisten Männer schlummern noch als glückliche Feierleichen. Eingeschlafen auf einer Bank oder an einer Laterne unter freiem Himmel. Vor ihnen steht ein schales Bier, Fliegen umsummt. Klar, ich bin auf der Mere Piuestee unterwegs, unter der Hand wird diese mehrspurige Autoschneise die Elch-Straße genannt. Angeblich deswegen, weil hier entlang Party-Leftovers auf allen Vieren Richtung Hafen trotteln, von dort jetten sie im Vollrausch mit der Schnellfähre Richtung Helsinki.
Tallinn – Die Schöne oder das Biest?
Bums-Tourismus nach Tallinn ist immer noch unübersehbar groß. Junggesellen-Abschiede, Bordellbesuche, bandenmäßiges Saufen. Am Abend unterwegs in der Altstadt denke ich: Tallinn ist eine Hure. Doppelgesichtig, aufgerüscht, verführerisch und abstoßend zugleich.
Touristen aus aller Herren Länder torkeln haltlos vorbei. Sie kreischen herum. Sie zeigen mit staunend aufgerissenen Mündern, nein das gibt’s doch nicht, auf Gaukler, Feuerspucker und Improvisations-Theater: Streit und Schlägerei zwischen Männern in schwarzen Hosen und blütenweißen Hemden. Es geht, na klar, um ein schöne Frau. Erst falle ich drauf rein, dann ärgere ich mich. Zuschauer verstopfen die Straße, irgendwo zupft ein Straßenmusikant an der Gitarre, ich will nur noch weg. Also Zuflucht zwischen Kopfkissen und zeitig ins Bett. Ich denke an meinen Freund Ivars, der in Tallinn wohnt. Er sieht den ganzen Rummel pragmatisch. “Im Sommer ist die Altstadt halt für die Touristen”, sagt er. “Im langen Winter haben wir sie doch sowieso für uns.”
Am nächsten Morgen komme ich früh aus den Federn. Bis kurz vor 10 Uhr habe ich die Altstadt an diesem Sonntag Morgen fast für mich alleine. Dann machen die Geschäfte auf und langsam füllen sich die Straßen. So schön die Altstadt von Tallinn ist, diesen Ansturm halte ich jetzt nicht aus. Gibt es außer Altstadt noch etwas zu sehen in Tallinn? Aber klar, ich ziehe jetzt weiter ins Kalamaja Viertel.
Das Kalamaja Viertel
Das Kalamaja-Viertel, ein ehemaliges Arbeiterviertel, liegt hoch über Tallinns Hafen und der Ostsee. Bei der tollen Aussicht von hier oben ist schwer vorstellbar, dass Tallinn während der sowjetischen Besatzung fast völlig vom Meer abgeschnitten war. Die Küste war wegen der Nähe zu Finnland Sperrgebiet, Zutritt nur mit Sondererlaubnis! Dabei hören sich die Straßennamen an nach wilder, unbezwungener Natur: Soo ist der Sumpf, Kalju die Klippe und Graniidi der Granit.
Das Kalamaja Viertel sieht heute aus wie eine gemütliche Vorstadt. Mehrere hundert grüne, rote und braune Holzhäuser aus der Zeit um 1900 stehen noch hier. Mehrfamilienhäuser mit schlichten Grundrissen, aber schönen Schnitzereien an den Fassaden. Anscheinend lebten die Menschen hier ziemlich eng zusammen gerückt, für jede Familie nur ein Zimmer, das Klo auf dem Flur. Gearbeitet wurde im Hafen, in der Fischerei, der Seilerei, auch das legen Straßennamen nahe.
Erst kommen die Hipster, dann kommen die Makler …
In der Sowjetzeit wurde das Viertel vernachlässigt. Nach der Wende kamen die Hipster. Wie so häufig waren die Hipster auch hier als Trend Scouts für die Investoren unterwegs. Denn nach ihnen war ganz schnell die Gentrifizierung da. Tallinn ist eine wachsende Stadt. Also wird gebaut, auch im Kalamaja Viertel. Denn es liegt ja so verführerisch zentrumsnah, diese Chance lässt sich kein Investor entgehen. Dicke Wagen parken vor den Häusern und überall sind Plakate angeschlagen, um Termine zur Besichtigung von Modellwohnungen zu bewerben.
Auf der Vana Kalamaja treffe ich einen begeisterten Makler. Er hat gerade einen potentiellen Wohnungskäufer verabschiedet und ein bisschen Zeit zwischen den Terminen. In diesen alten Bretterhäusern wollte doch niemand wohnen, erzählt er mir. Klar, die Hipster haben das Viertel populär gemacht mit ihren Bars, Restaurants und Cafés. Aber jetzt kommen halt die Wohnungen für die digitale Elite. Der Makler hofft, dass Programmierer, Marketing-Spezialisten oder Banker diese Wohnungen erwerben.
Baumboom im Kalamaja Viertel
Ich schau mich um und denke, die schöne Stimmung ist an vielen Stellen leider perdu. Kommt auch nicht wieder. Dazu ist die neue Architektur einfach viel zu praktisch und pragmatisch. Verwunschene Romantik lässt sich zwar im Kalamaja Viertel noch finden, allerdings muss ich danach suchen.
Die Hipster sind auch schon vor einiger Zeit weiter gezogen, auf der Straße sind sie auf jeden Fall nicht mehr zu sehen. Hinter den stumpfen Fensterscheiben der alten, nicht renovierten Holzhäuser hängen mindestens 100 Jahre alte Spitzen-Gardinen voller Gilb. Wenn sich diese Gardinen bewegen, dann schauen alte Frauen auf die Straße, sie sehen ziemlich arm und auch verlassen aus. Was sie wohl über die vielen neuen Häuser denken?
Unten am Hafen setze ich mich auf die Terrasse eines alternativen Cafés und genieße den Blick über den Hafen. Hier sind die coolen Jungs und Mädchen dann doch noch unterwegs. Der Espresso ist allerdings so stark und bitter, der ist nicht für Weicheier geröstet. Gleich nebenan hat sich das Estnische Design Haus eingerichtet. Ein winziger Showroom mit Shop zeigt, was das Estnische Design so alles kann. Hier gibt es die kleinen schönen Dinge, die den Alltag reicher machen. Portemonnaies, Umhängetaschen, Kleiderhaken und Schneide-Brettchen, brauche ich was davon? Erwartet ein lieber Mensch zu Hause für Blumen gießen ein Geschenk? Leider nein, also wird nur bewundert und nicht eingekauft.
Nach dem schönen Spaziergang durch das Kalamaja Viertel hat mich hat das Thema Stadtentwicklung in Tallinn richtig gepackt. Im Estnischen Architektur-Museum gibt es mehr darüber zu erfahren, das schaue ich mir jetzt an. Es ist nur ein kurzes Stück zu Fuß, der Weg führt Richtung Roterman Viertel, dem nächsten Tallinn-Tipp.