Nostalgische Bilder
Wir alle sind mobil und gut unterwegs. Auf Reisen. Oder einfach nur von A nach B. Oder in der Fantasie. Oder im Internet. Auf dem Sprung und immer in Bewegung.
Auf Reisen machen wir Bilder. So viele Reisebilder. Ich habe Unmengen davon. In Schachteln und in Alben. Manchmal schlage ich ganz altmodisch noch ein Fotoalbum auf. Beim Abstauben ziehe ich es hinten aus dem Regal und blättere durch. Ledrig knistern die trägen Albumseiten in meinen Händen. Verblühte Fotos und Erinnerungen springen aus ihren Fotoecken. Dann wird mir ganz romantisch. Die Dia-Kästen ignoriere ich einfach. Der Projektor ist schon vor Jahren abgeraucht.
Damals kosteten Bilder richtig Geld. Der Fotofilm. Die Entwicklung. Der Abzug. Das Album. Ich hab auf Reisen vor jedem “Klick“ überlegt und genau kalkuliert. Lohnt sich das? Tempi passati!
Heute werfe ich mein iPhone an. Anschließend projiziert der Computer eine Dia-Show. Ich poste Fotos bei Facebook oder versende sie mit einer App. Klar ich publishe meine Reisebilder auch hier im Blog. Meine Festplatten sind voll gerotzt mit zufälligem Bildermüll. Bevor ich anfange Bilder zu löschen oder zu sortieren, kaufe ich lieber neuen Speicher.
Eine Reise ohne Foto?
Ich bummle durch die Welt und stelle fest, auch andere Menschen sind zwanghaft mit der Kamera verwachsen. Auch sie müssen die schönen Orte und Dinge auf der Welt digital einfangen und besitzen.
Brandenburger Tor. Klick.
Michelangelos David. Klick. Klick.
Mona Lisa. Klick. Klick. Klick.
Intensiv ansehen oder genau hinschauen? Das kommt einfach später. Wenn überhaupt. An den touristischen Hot-Spots dieser Erde ersetzt schnelles Knipsen die Wahrnehmung und das Sehen. Eine Reise ohne Foto ist denkbar. Aber ist es dann noch eine Reise? Susan Sontag schrieb vor 40 Jahren in ihrem tollen Buch On Photography.
“So successful has been the camera’s role in beautyfing the world that photographs, rather then the world, have become the standard of the beautiful.“
Interessant! Die Kamera als Weltverschönerin. Wenn dem so ist, dann ist natürlich die Welt oder das Reiseziel jenseits der fotografischen Reproduktion irgendwie mau und schwach. Dann verwandelt erst der Klick den Ort, an dem man sich gerade aufhält, zu einem It-Place, zu einem Ort, an dem man sein muss.
Seht mal! Schaut mal! Hier!
Früher nutzten vornehme Reisende das getönte Claude-Glas, um Landschaften und Ruinen perfekt ins rechte Licht zu setzen und in einen ansprechenden Rahmen zu fassen. Heute ist fast jeder Reisende mit Smartphone inklusive Foto-Funktion unterwegs, das diese Aufgabe prima übernimmt.
“Seht mal!“, “Schau!“, “Hier ist’s!“ Für Roland Barthes ist die Fotografie eine reine Hinweis-Sprache. “Ich bin auch schon hier gewesen!“ ruft in diesem Sinne das moderne Reisebild. “So schööön war’s hier!“ Und ich mitten drin.
“Ist das hässlich! Ich muss ein Foto davon machen.“ Ruft eigentlich niemand aus. Ich versuche das manchmal. Weil mich absurde Orte faszinieren. In der Foto-Galerie Kuldiga – Stadtspaziergang in Kurland zum Beispiel. Das hat mir sofort den Tadel einer lettischen Freundin eingetragen. “Wenn Du so hässliche Fotos postest, dann schreckst Du die Menschen ab, nach Lettland zu reisen,“ protestierte sie. Da ist sie dann die Schere im Kopf. Schön, bitte, soll es sein!
Gibt es Reisebilder, die nicht sofort schreien: Ich bin auch schon hier gewesen? Ja! Diese außerordentlich erfreulichen Ausnahmen kannst Du Dir gerade in der Ausstellung Wir suchen das Weite des Kupferstichkabinetts der Staatlichen Museen zu Berlin anschauen. Die Ausstellung versammelt fast 100 hinreißende Reisebilder aus über 500 Jahren.
Reisebilder von Albrecht Dürer bis Olafur Eliasson
Ein guter Überblick. Viel älter als 500 Jahre ist die Kunst der Reisebilder nämlich nicht. Bevor reisende Künstler auf die Idee kamen Reisebilder herzustellen, mussten erst einmal die Bilder das Reisen lernen. Als Druckgrafik wie Holzschnitt oder Kupferstich. Oder viel praktischer als illustriertes und gedrucktes Buch.
Erst dann ziehen die reisenden Künstler Zettelchen oder Tagbücher auch unterwegs hervor. Sie setzen sich auf einen Stein oder an ein Ufer, zücken den Griffel und fangen an zu zeichnen. Deswegen gibt es in der Ausstellung auch besonders viele Zeichnungen und kleinformatige Reisebilder. Früher brauchten Reisebilder richtig Zeit. In der Herstellung. Aber auch in der Verbreitung. Und diese Zeit hat den Bildern richtig gut getan.
Ganz zu Beginn der Ausstellung bewundere ich ein fantastisches Aquarell von Georg Hoefnagel, Muscheln und Ansicht von Cadiz. Der Titel verrät schon die verkehrte Welt dieses Reisebilds. Ganz hinten winzig klein eine Miniaturansicht der spanischen Hafenstadt an dieser herrlichen Atlantikküste. Ganz vorne hat das Meer eine betörende Auswahl zart kolorierter Muscheln und Schnecken an den Strand gespült. In dieses schauerliche Element entlässt uns nun der Künstler mit den folgenden Zeilen:
Geh jetzt und schicke die Seele mit den Winden
vertraue auf das gezimmerte Holz
vier Zoll vom Tode entfernt und sieben
wenn es eine große Fichte war
Eingespannt zwischen Text und Bild beginnt meine Fantasie zu pumpen. Sofort ist alles da, was meinen Traum vom Reisen befeuert. Die Neugierde. Das Abenteuer. Die Schönheit. Das Souvenir. Die Gefahr. Das Geheimnis. Erstaunlich was kunstvolle Reisebilder so alles leisten können.
Neugierig macht mich auch die monumentale Ansicht von Kairo, die Matteo Pagano im Jahre 1549 aus 21 Druckblöcken herausgeschnitten hat. Faszinierend. Pagano hat den Namen Kairos auf Italienisch, Hebräisch, Arabisch, Äthiopisch, Armenisch, Syrisch und Georgisch an den oberen Rand geschrieben. Die Metropole Kairo war anscheinend schon vor Jahrhunderten eine Mega-City von globaler Bedeutung und bedeutendes Reiseziel. Aus der Vogelperspektive schaue ich auf Stadtviertel, Hauptstraßen und große Plätze hinunter. Vor der Stadt strömt träge der Nil. Hier wachsen exotische Pflanzen und lungern gefährliche Krokodile. Vor der Sphinx und den Pyramiden staunen tatsächlich schon die ersten Touristen. Allein schon für das Eintauchen in Kairos unglaubliche Stadtlandschaft lohnt sich der Besuch der Ausstellung Wir suchen das Weite.
Unterwegs in der Moderne
Mocha Standard heißt ein sensationell nüchterner Siebdruck von Ed Ruscha aus dem Jahr 1969. Die Abbildung einer funktional designten Tankstelle transportiert das moderne Werbe-Versprechen einer unkomplizierten, individuellen Mobilität. Eine gewaltige Diagonale stürzt von oben Links in den Hintergrund und verpufft in einem geheimnisvollen Bildleuchten. Sofort ist die Sehnsucht nach Weite und Entfernung wieder da! Menschen und Vehikel fehlen. Warum bloß diese Leere?
Eines der aktuellsten und bedrohlichsten Reisemotive, die Flucht, ist mit einem Meisterstich von Martin Schongauer vertreten. Das fantastische Blatt, entstanden um 1475, zeigt eine Geschichte aus dem Neuen Testament Die Flucht nach Ägypten. Das Blatt führt mir zwei Dinge vor Augen. Banalitäten eigentlich, die sich deswegen so leicht vergessen lassen:
- Die Geschichte des christlichen Abendlandes beginnt im exotischen Morgenland.
- Die Geschichte des christlichen Abendlandes beginnt mit einer Flucht.
Ohne diese Ränder – eine gefährliche Flucht und den exotischen Orient – ist dieses Europa anscheinend nicht zu haben. Lorenz hat hier im Blog einiges darüber geschrieben. Zum Beispiel: Reisen in Zeiten der Flüchtlingsströme.
Wir sind dann mal im Museum
Die Ausstellung gliedert sich in 6 Stationen. Die Welt auf Papier – Mental Maps erzählt von der Vermessung der Welt, von den perspektivischen Kategorien Nähe und Ferne und dem Medium Papier für Reisebilder. Andere Stationen beschäftigen sich mit Reisemotiven wie Wallfahrt oder Bildungsreise. Die Reisemittel Wagen, Flugzeug, Schiff werden in kleinen Formaten vorgestellt. Den Entdeckungsreisen und dem Exotischen ist eine Station gewidmet. Der letzte Abschnitt beschäftigt sich mit Fluchten und inneren Reisen. Das alles ist ganz interessant arrangiert.
Wie bei Themenausstellungen zu großen Oberbegriffen häufig, kommt mir manches etwas zufällig und willkürlich vor. Das Ausstellungs-Design mit blauen Wänden und vollgestellt mit gelben Verkehrsschildern deutscher Landstraßen ist für das Kupferstichkabinett bestimmt gewagt. Es wirkt allerdings ein bisschen popelig. Gerade die Verkehrsschilder rahmen das globale Motiv Reise in eine lokal beschränkte visuelle Kultur. Schade.
Das tut der Ausstellung aber alles keinen Abbruch! Denn die Fülle an bezaubernden und faszinierenden Reisebildern schickt mich auf eine Entdeckungsreise zu den vielfältigen Ideen, Konzepten, Erlebnissen und Erinnerungen, die rund um Reisen kreisen. Wie reich und tief die Beschäftigung mit Reisen sein kann, wenn auf Papier gearbeitet wird. Erstaunlich. Mit nur einem Klick lassen sich diese Dimensionen nicht erreichen. Also Hingehen! Anschauen! Papier und Bleistift nehmen und endlich anfangen in Bildern zu denken.
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Service
Die Ausstellung Wir suchen das Weite. Reisebilder von Albrecht Dürer bis Olafur Eliasson – Eine Sommerausstellung im Kupferstichkabinett läuft noch bis zum 25. September 2016.
Kulturforum, Kupferstichkabinett
Matthäikirchplatz, 10785 Berlin-Tiergarten
Öffnungszeiten: Di, Mi, Fr 10-18 Uhr, Do 10-20 Uhr, Sa + So 11-18 Uhr
Der informative, reich bebilderte Katalog zur Ausstellung Wir suchen das Weite. Reisebilder von Albrecht Dürer bis Olafur Eliasson ist im nicolai Verlag erschienen und kostet 19.95 €.