Stockholm, die schwedische Stadt, die sich selbst immer noch ungeniert „Hauptstadt Skandinaviens“ bezeichnet und gerade als Silicon Valley Europas gefeiert wird, ist wirklich zu jeder Jahreszeit eine Reise wert. Neben den üblichen Sehenswürdigkeiten haben wir diesmal etwas besonders Faszinierendes entdeckt.
Entrepreneurship und Start-up Hochburg Stockholm
Anstatt aber an dieser Stelle darüber zu diskutieren, was alles hinter einer Aussage wie „Stockholm – the Capital of Scandinavia“ steckt, stelle ich hier einfach fest: Die Hauptstadt von Schweden erklimmt die Leiter der Zukunftsgestalter immer weiter und man fühlt sich hier weit mehr im 21. Jahrhundert als an vielen Orten in Deutschland.
Unlängst wurde Schwedens Hauptstadt Stockholm zum Silicon Valley Europas gekürt, junge Unternehmen mit innovativen Geschäftsmodellen blühen hier schnell auf – und erobern dann andere Märkte. Die Stadt glänzt heute mit der höchsten Dichte an „Unicorns“ in Europa. So bezeichnet man Start-ups mit einem Marktwert von einer Milliarde US-Dollar. Dazu kommen viele Unternehmen, die ausdrücklich sozial, ökologisch und ökonomisch agieren und mit ihren Geschäftsmodellen smarte, Ressourcen schonende Lösungen für die Herausforderungen unserer Zeit entwickeln. Entrepreneurship Education ist als Querschnittdisziplin und Meta-Wissenschaft mit anderen Disziplinen vernetzt und wird interdisziplinär gelehrt.
Stockholms Fläche besteht zu 30% aus Wasser. Ihren Charme bezieht das „Venedig des Nordens“ auch aus den brückenverbundenen Inseln, auf denen die heutige Hauptstadt vor sieben Jahrhunderten erbaut wurde. Auf diesem Boden blühen nicht nur Start-ups. Es ist viel in Bewegung, Baustellen prägen das öffentliche Bild mitten im Zentrum der Stadt. Eine davon war während unseres Besuchs so dominant wie in Berlin einstmals die Großbaustelle am Potsdamer Platz. Sie befindet sich zwischen den Inseln Gamla Stan (der Altstadt) und Södermalm (dem hippen Künstlerviertel). Hier, am Bahnhof Slussen (dt. Schleuse), befindet sich unter anderem eine zentrale Drehscheibe des Stockholmer U-Bahn-Verkehrs.
Ein Verkehrskreisel mit Geschichte
In Stockholm ballt sich alles, was Schweden auszeichnet. Parlament, Regierung, Kulinarik, Kultur, Kunst, Startup Szene, Fashion, etc. Seit 1634 ist Stockholm Sitz des Königshauses. Gala-Leser wissen Bescheid. Im Zentrum von Stockholm, also am Übergang der Altstadt Gamla Stan und dem UmsteigeBahnhof Slussen wird die einzige schwedische Millionenstadt also gerade am offenen Herzen operiert. Eine riesige Baustelle klafft direkt an der stark frequentierten Tunnelbahnen Station. Der Eingriff ist komplex. Alles scheint auf links gedreht. Der kleeblattformige, kreuzungsfreie Kreisel, der 1935 eröffnet wurde, klafft auf mehreren Ebenen weit offen. Und der schwedische Patient lächelt.
Seit der Inbetriebnahme des damals beeindruckend zukunftweisenden Baus blieb der Verkehrsknotenpunkt weitgehend wie er war. Mit der Zeit geriet er in einen sehr schlechten Zustand. Außerdem änderten sich die Anforderungen und Kenntnisse in Bezug auf zeitgemäße Konstrukte. Für die Abschaffung und Umgestaltung der alten, raumfordernden Lösung im Herzen Stockholms sprachen ab den 1990er Jahren gute Gründe. Es galt, den öffentliche Personennahverkehr und auch die Radfahrer zu integrieren. Planungen für die nun im Bau befindliche Anlage begannen, nachdem klar war, dass eine Renovierung des alten Kleeblatts nicht funktionieren würde.
Baustellen-Schick in Stockholm
Die Baustelle gilt als eines der ambitioniertesten Umbauprojekte eines Verkehrsknotenpunktes in Europa. Ich habe den Eindruck, hier wirklich mitten auf dem OP-Tisch zwischen Operationsbesteck herumzulaufen. Nur, dass sich niemand an mir stört und ich mich trotzdem gut zurecht finde. Nun ja, beim ersten Anlauf verpasse ich den gewünschten Abzweig zu meinem Ziel, doch das liegt an mir. Ich kann mich an der in meinen Augen aufregendsten Baustelle der Welt schon vom Boden aus einfach nicht satt sehen. Nach einer kleinen Extrarunde lande ich am gewünschten Ort – ich will mir das Spektakel nämlich einmal von oben anschauen.
Baustellen-Panoramablick im Erik’s Gondolen
Eine kurze Fahrt mit dem Fahrstuhl später sitze ich in luftiger Höhe. Mit einem Cocktail in der Hand blicke ich von einem lauschigen Eck in Erik’s Gondolen Bar aus auf das Wimmelbild aus Kränen, Fußgänger-Umleitungen und offen klaffenden Baugruben hinab. Seit Baubeginn 2013 – das lese ich unter anderem bei Martin Randelhoff und „Zukunft Mobilität“ gelesen – mannigfach verändert hat. Die Stockholmer Berufstätigen und Pendler bewegen sich souverän und entspannt durch die Umleitungen und Ersatzwege. Kein Wunder, alles ist engmaschig und vorbildlich übersichtlich ausgeschildert, jeder Informationsbaustein signalisiert Professionalität und bietet Orientierung galore. Hier laufen die Dinge. Einfach.
Offensive Angeberei ist keine Eigenschaft der Schweden. Selbstbewusst und stolz sind sie aber schon, das fällt mir in meinen Gesprächen mit Akteuren der dortigen Unternehmer-Szene deutlich auf. Dass sie in vielen ambitionierten und zukunftweisenden Vorhaben in Europa eine Vorreiterrolle einnehmen, wie sie alles wuppen und wie sehr sie sich mit ihrem Land und ihrem Schwedisch-sein identifizieren, ist inspirierend. Handeln unter Ungewissheit scheint ihnen leicht zu fallen.
Sie machen einfach, wo wir meinem Empfinden nach noch zu häufig zögern, Dinge kaputt denken oder uns in kräftezehrendem Klein-Klein verstricken. Gleichzeitig profitiert das ressourcenreiche Land von seiner Überschaubarkeit in Punkto Einwohner, Märkte und Datentransparenz und dem sozialistisch angehauchten positiven gesellschaftlichen Druck, ein „guter“ Teil der Gemeinschaft zu sein.
Schweden: Auf leisen, kessen Sohlen in die Zukunft
Auch auf den Straßen bin ich fasziniert von diesem geordneten Chaos, das sich hier auf greifbare Weise mit dem unerschütterlichem Zukunftsglaube der Schweden vermischt. Ein Teil von mir findet den Anblick so vieler Menschen, die sich leise und reibungslos durch den öffentlichen Raum bewegen, auch befremdlich. Für eine Berliner Dauerbaustellen-Bewohnerin hat die Art und Weise, wie hier alle auf Teflon über volle Straßen und durch laute Baustellen schweben, was von einem Science Fiction Szenario. Wie beiläufig und flächendeckend in Stockholm nur noch mit dem guten Namen bezahlt wird, ist für Bürger eines Landes mit Bargeld-Fetisch extrem auffällig. In meinen Tipps für einen gelungenen Urlaub in Schweden habe ich bereits berichtet, dass Cash fast komplett aus dem öffentlichen Zahlungsverkehr verschwunden ist.
Selbst ein Päckchen Kaugummi lässt sich in Stockholm mit einer elektronischen Geldkarte bezahlen. In Berlin kann es dir passieren, dass du selbst in einem Edel-Restaurant das Schild „cash only“ an Tür und Menükarte findest. Während meines gesamten Aufenthalts habe ich jedenfalls keine einzige Schwedische Krone (SEK) in der Hand gehalten. Und sich trotz eines solch offensiven Baustellengewimmels zu fühlen, als würde man auf Schienen in die Zukunft gleiten, ist schon bemerkenswert.
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(c) Titelfoto: Heidrun Bäumker – alle nicht gekennzeichneten Fotos (c) Kirsten Kohlhaw, danke auch an Olav Westphalen für die Motive, die mit seiner Kamera entstanden sind.