Das Erfolgrezept von Stralsund
„Wer kein Kramer ist, bleibe draußen oder ich schlag ihm auf die Schnauze“, steht auf dem Krämergestühl anno 1574 in der imposanten Nikolaikirche. Das ist, aufs Wesentliche reduziert, das Erfolgsrezept von Stralsund. Mit großer Chuzpe schlugen die Bürger der Stadt so manchem Fürsten auf die Schnauze und erhielten sich so ihre Unabhängigkeit. Besonders eindrucksvoll gelang das im sogenannten Stralsunder Frieden vom Mai 1370. Damals lasen die Stralsunder als führende militärische Köpfe der Hanse dem renitenten dänischen König gehörig die Leviten. Später boten sie sogar Wallenstein die Stirn. So viel Eigensinn wirkt, trotz mancher Rückschläge, bis heute nach, besonders in der Altstadt. Dort erhielten die Grünen bei der Bürgerschaftswahl 2014 fast genauso viele Stimmen wie die amtierende CDU – ein einsamer Ausreißer im Vergleich zu den übrigen Wahlbezirken.
Stralsund meerumschlungen
Die Altstadt von Stralsund sieht aus wie eine Insel. Landseitig grenzt sie an die Wasserflächen von Knieper- und Frankenteich, gegenüber verläuft der Strelasund, die Meerenge zwischen der Ostsee und der Insel Rügen. Die Hafenlage hat die Stadt groß gemacht, ihre Handelsflotte zählte noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts 200 Hochseesegler und war eine der größten des gesamten Ostseeraums. Die aufkommende Dampfschifffahrt allerdings haben die Stralsunder mit Pauken und Trompeten verschlafen. An vergangene Seefahrerzeiten erinnert heute noch die Gorch Fock I, die 2003 in ihren alten Heimathafen zurückkehrte und dort besichtigt werden kann.
Hafenattraktion für Regentage
Gleich neben der Gorch Fock liegt ein Flaggschiff ganz anderer Art: das Ozeaneum. Seit 2008 führt der spektakuläre Neubau die erstaunlich lange Liste der Stralsunder Museen an. Man kann darüber streiten, wie gelungen sich seine Architektur in das historische Ensemble der Hafenspeicher fügt. Eine reizvollere Ansicht bietet sich von schräg hinten, aus der Perspektive einer Robbenfamilie, die der Bildhauer so glatt aus dem Stein geschält hat, dass man sie ständig streicheln möchte. Immerhin ist hier aus einer der zahlreichen Stralsunder Baulücken einmal kein Parkplatz entstanden, sondern ein – zumindest im Inneren – wirklich gelungenes Schatzhaus unserer Weltmeere.
Wir sind hier heute auch deshalb bestens aufgehoben, weil es draußen Katzen und Hunde regnet – im Frühjahr kommt das in Stralsund schon mal vor. Vom Obergeschoss aus bietet sich ein etwas getrübter, aber erfrischend maritimer Blick auf den Strelasund mit der 2007 eingeweihten, elegant geschwungenen Rügenbrücke. Die Orts- und Entfernungsangaben auf dem Panoramafenster sind nicht nur hilfreich für die geografische Verortung, sie veranschaulichen auch die nahen und ferneren Zielhäfen der ehemaligen Handelsflotte der Stadt.
Die ganze Welt des Ozeans
Das Ozeaneum beschränkt sich nicht darauf, exotische Unterwasserwelten zu zeigen. Die gibt es natürlich, und bei vielen Besuchern zuckt da automatisch der Finger am Auslöser. Großes Staunen löst eine Vitrine aus, die ein kolossales Walherz – ich glaube, sein ehemaliger Eigentümer war ein Pottwal – neben einem Menschenherz zeigt.
Das ist noch nichts gegen die Dimensionen im Ausstellungsraum „1:1 Riesen der Meere“. Dort hängt die originalgetreue Nachbildung eines 26 Meter langen Blauwals von der Decke, flankiert von weiteren Walmodellen, einem Mondfisch und einem Riesenkraken. Die Höhe des Saals ist enorm, fällt aber wegen seiner tiefblauen Farbe kaum auf. Unten stehen Liegen – der ideale Ort, um in einer stündlich zweimal gezeigten Multivisionsschau mit Lichteffekten und Walgesang buchstäblich zu versinken.
Greenpeace hat hier seine Finger im Spiel, und das ist wohl auch der Grund dafür, dass neben der Schönheit der Ozeane auch deren Probleme zur Sprache kommen. Es ist schon ein Unterschied, von der Vermüllung der Meere in den Medien zu lesen oder vor einem Aquarium zu stehen, das Fische im Abfallambiente zeigt. Ein anderes Aquarium verzichtet ganz auf Fische und wirbelt Müll in einem ewig gleichen Strudel auf und nieder. Ist das die Zukunft, die uns blüht?
Stolze Bürgerstadt Stralsund
Schön an Stralsund ist, dass wir die Altstadt ganz entspannt erforschen können – was sicher daran liegt, dass wir in der Nebensaison hier sind. Zwischendurch gibt es immer irgendwo ein Café, um Pause zu machen, oder eine Buchhandlung zum Stöbern. Verirren geht nicht, denn früher oder später stehen wir immer am Wasser. Orientierung gibt zur Not auch das Modell vor dem Rathaus.
Die beiden dicken Türme gehören zur Nikolaikirche, die gleich neben dem Rathaus steht, als wäre sie mit ihm verwachsen. Das prachtvolle Bauensemble war schon immer das Zentrum und der Stolz der Stadt und ist es bis heute. Im 15. Jahrhundert, zur Blütezeit Stralsunds, statten die führenden Händlerdynastien der Stadt ihre Ratskirche mit kostbaren Altären aus. Zeitgleich erhält das Rathaus seine beeindruckende Schauwand mit den Stadtwappen der Hansestädte Bremen, Lüneburg, Hamburg, Lübeck, Wismar, Rostock, Stralsund und Greifswald.
Den Erhalt des historischen Erbes lassen sich die Stralsunder einiges kosten. Seit Jahren sammeln sie für die originalgetreue Restaurierung der Nikolaikirche. Das ist auch dringend nötig – die Tragbalken des Daches sind von Kernfäule ganz ausgehöhlt und müssen erneuert werden. Auch die ursprüngliche Bemalung der Wände und Bögen hat stark gelitten: Manche Wandmalereien sind übertüncht und werden nun nach und nach freigelegt. Bis der Innenraum wieder so aussieht wie zur Zeit der Fertigstellung der Kirche um 1350, bleibt noch viel zu tun. Das Ergebnis – ein erstaunlich farbenfrohes Interieur – kann sich schon jetzt sehen lassen.
Das Tor nach Rügen
Zur Zeit seiner Gründung ist Stralsund nicht viel mehr als ein Bollwerk zum Schutz der Insel Rügen. Später gewinnt die Stadt an Einfluss, die Bürger verfolgen ihre eigenen politischen Ziele. Die enge Verbundenheit zu Rügen bleibt jedoch bestehen. Heute gehört ein Ausflug auf die 1.000 Quadratkilometer große Insel zu Stralsund wie die Festungsmauer um die Altstadt. Wir haben für den Inselbesuch nur einen Tag Zeit und entscheiden uns für eine Bootsfahrt vom Ostseebad Binz zu den Kreidefelsen.
Die Anfahrt mit dem Zug bei strahlendem Sonnenschein führt leider nicht über die neue Brücke – die ist den Autos vorbehalten. In Binz – traditionsreich und mondän – schieben sich die ersten Wolken über den Himmel, aber noch hält das Wetter. Wir trotzen dem kalten Wind an Deck und werden nicht enttäuscht: Die Kreidefelsen, die schon Caspar David Friedrich begeisterten, erheben sich höchst malerisch über dem irgendwie karibisch gefärbten Wasser der Ostsee. Darüber breitet sich der dunkle Teppich der berühmten, jetzt laublosen Rügener Buchenwälder.
In Sassnitz verlassen wir das Boot – wir wollen die Küste aus der Nähe inspizieren. Über uns türmen sich die Kreidefelsen: Von hier unten aus wirken sie viel höher – und bedrohlicher, denn Kreide hat nun mal die Angewohnheit zu bröckeln. Wir blenden das vorübergehend aus, wandern den Kieselstrand entlang und richten den Blick immer intensiver zu Boden, stets auf der Suche nach Muscheln und Steinen. Als wir wieder aufblicken, hat sich der Himmel bedrohlich verdunkelt. Auf dem Weg zum Bahnhof beginnt es zu tröpfeln. Stralsund empfängt uns regennass. Das nächste Café ist unseres!