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Kampanien: Paestum und die Einwanderung nach Italien

Kampanien ist Einwanderungsland. Doppelgesichtig. Widersprüchlich. Vor über 2500 Jahren kamen die antiken Griechen hierher und bauten die prächtigen Tempel von Paestum. Heute kommen Wanderarbeiter und Prostituierte aus Afrika und aus Osteuropa. Reise in eine vergessene Landschaft an der Peripherie Europas.
Inhalt

Die Tempel stiegen, groß und hehr …

In Paestum hat jeder Grieche guten Grund, richtig neidisch auf Süditalien zu werden. So prächtige dorische Tempel wie in Paestum haben sie in Griechenland nämlich nicht. Ehrfürchtige Säulenhallen aus gold schimmerndem Stein. Bestürzend schön hinein geworfen in eine leider völlig öde Schwemmebene aus Meer und Sand und einem Fluß mit Namen Sele.

Blick auf den dorischen Athena Tempel von Paestum.
Der Athena Tempel von Paestum erhebt sich auf einem winzigen Hügel, der Akropolis

Im Reiseführer lese ich: die Tempel von Paestum wurde im 18. Jahrhundert wieder entdeckt. Anlässlich eines Straßenbaus. Schon komisch, denke ich, die Tempel stehen doch schon seit über 2500 Jahre hier. Sie sind so richtig alt! Umgefallen sind sie nie. Die Tempel von Paestum sind so gigantisch groß. Die Landschaft ist so flach. Die lassen sich doch einfach gar nicht übersehen:

Die Tempel stiegen, groß und hehr,
Mir aus der Ferne schon entgegen,
Da ward die Gegend menschenleer
Und öd‘ und öder um mich her,
Und Wein wuchs wild auf meinen Wegen.

Romantisch! So beschreibt Johann Gottfried Seume seine Annäherung an die Tempel von Paestum im Jahre 1802. Einige Jahrzehnte nach der Wiederentdeckung. Es ist wahrscheinlich einfach so, dass über Jahrhunderte niemand in diese sumpfige Sele-Ebene gefahren ist, der von den Tempeln hätte berichten können oder wollen. Denn die Ruinen der antiken Stadt Paestum dienten den umliegenden Orten als Steinbruch für ihre großen Bauvorhaben. Keine Kirche in den nahe gelegenen Städten Salerno oder Amalfi, die nicht bis in das 18. Jahrhundert mit Säulen und Marmor aus Paestum aufgehübscht worden wäre. Also die Tempel von Paestum lieber nicht an die große Glocke hängen, denn sonst wäre heftigste Konkurrenz um das billige Baumaterial entbrannt.

Die Ringhalle des Hera Tempel von Paestum.
Der Hera Tempel ist ein klassischer dorischer Tempel. Gebaut wurde er 450 Jahre vor unserer Zeit

Reise zu den Tempel von Paestum

Nun war die Reise nach Paestum in Kampanien um 1800 sicher ein gefährliches Abenteuer. Reisen und Gefahr für den modernen Easyjet-Setter eine ungewöhnliche Kombination. Aber früher! Goethe schaute dem blutäugigen Wasserbüffel ins Angesicht. Johann Gottfried Seume schlug sich auf dem Weg zu den Tempeln von Paestum mit allerlei Wegelagerern herum. In der sumpfigen Gegend drohte die Ansteckung mit Malaria. Lässt sich fast alles auch heute noch erleben.

Heute ist der Wasserbüffel allerdings bezähmt. Er lebt auf Farmen und produziert fettreiche Büffelmilch. Den Rohstoff für die für die leckere Mozzarella di Bufala. Der Büffel bedroht keine Menschen mehr. Heute ist es umgekehrt. Der Mensch bedroht den Büffel. Die Mozzarella-Produktion hebelt systematisch Tierschutz und Tierrechte aus. Manche meinen sogar: am Büffel-Mozzarella klebe Blut.

Auch die Wegelagerer sind noch da. Seume begegnete bei seiner Reise zu den Tempeln von Paestum allerlei zwielichtigen, bedrohlichen Männern. Heute lockt an den Rändern der Staatsstraße Nummer 18 mit dem tollen Namen Tirrena Inferiore die blanke Lust und die lodernde Verführung. Die Tirrena Inferiore ist ein kilometerlanger Straßenstrich. Eingeklemmt zwischen erbärmlichen Gemüsefeldern, abgegammelter Barracken-Architektur und bedrückend dunklen Eukalyptuswäldern. So stelle ich mir die Hölle vor! Wer hat sich dieses abgefuckte Bühnenbild bloß ausgedacht? Quietschig und wurstpelle-eng bekleidete Prostituierte mit blondem oder schwarzem Haar, mit heller oder dunkler Haut stolzieren am sonnenhellen Tag die Straße lang. Sie lehnen an Maschendrahtzäunen. Sie hocken auf klapprigen Plastikmöbeln und kauen Kaugummi.

Griechische Malerei aus dem Grab des Tauchers in Paestum.
Das Grab des Tauchers. Männerliebe beim Totenfest

Einwanderungsland Kampanien

Wahrscheinlich haben miese Menschenhändler diese Frauen aus der Ukraine oder aus Nigeria oder wo auch immer her hier ausgesetzt. Ein rumpeliger Fiat stoppt vor einer Frau. Sie Mitte 40, strenges Gesicht, starke Nase, Typ Hausfrau und Mutter, hautenges schwarzes Top mit tiefem Ausschnitt. Der Fahrer lässt das Fenster runter. Sie geht auf den Fiat zu, beugt sich vor und bammelt ihre Dinger vor dem Fenster hin und her. Was sind das bloß für Typen, die in der Tarnung eines Autos ranfahren und die wirtschaftliche Not dieser Frauen für einen schnellen Fick im Eukalyptus-Hain ausnutzen?

Auf den Feldern wachsen immer mehr stachelige Artischocken. Die Artischocken aus Paestum sind in ganz Italien berühmt. Genauso berühmt wie die roten Zwiebeln aus Tropea oder der Radicchio aus Treviso. Unter Plastikfolien schwitzen Tomaten, Paprika und Zucchini dem Kochtopf entgegen. Auf den Gemüsefeldern verziehen Männer kleine grüne Triebe. Auch ihr Arbeitsweg führte wahrscheinlich unfreiwillig entweder quer durch Europa oder über das Mittelmeer. Vielleicht sind sie auf dem Weg nach Nordeuropa. Vielleicht sind sie auf ihrer weiten Reise einfach hängen geblieben. Die nordafrikanisch anmutenden Männer wohnen in diesen schäbigen Baracken längs der Strada Statale. Aber sie leben eigentlich am Straßenrand. Auf klapprigen Fahrrädern wackeln sie die Tirrena Inferiore entlang. Sie lehnen an Pinien oder sitzen unter Büschen und starren diese öde Landschaft an. Die Küstenstraße zwischen Salerno und Paestum ist ein dramatisch trostloses Pflaster.

Löwenkopfesals Wasserspeier an einem Hera Tempel von Paestum.
Wasserspeier in Form eines Löwenkopfes

Christus kam nur bis Eboli

Paestum oder Capaccio, wie die Gemeinde heute heißt, ist Einwanderungsland. Bis in die 50er Jahre des letzten Jahrhunderts war die Sele-Ebene eine versumpfte Gegend. Von der Malaria bedroht. Menschenleer. Nach dem 2. Weltkrieg mit dem DDT der Amerikaner wurde diese Gefahr vertrieben. Die fruchtbare Sele-Ebene verwandelte sich vom Weideland in einen üppigen Gemüsegarten. Manchmal glitzert sie wie das spiegelnde Meer, eben bloß aus Plastikfolie. Mit dem Gemüse kamen die schäbigen Häuser und die Saisonarbeit. Mit der Saisonarbeit kamen die Arbeits-Migranten. Moderne Sklaven. Haben sich die Einwanderer Europa so grausam vorgestellt?

Etwas nordöstlich liegt Eboli. Ein Romantitel hat diese Stadt weltberühmt gemacht. Christus kam nur bis Eboli von Carlo Levi. Das Buch aus den 40er Jahren schildert eine von der modernen Gegenwart vergessene magische und mythische Gegenwart der bäuerlichen Welt in Süditalien. Ohne Geschichte, ohne Zukunft, ohne Entwicklung. Die Tempel von Paestum sind als UNESCO Weltkulturerbe Touristenmagnet und weltbekannt. Die Landschaft drumherum scheint immer noch versunken und vergessen und auch ohne die Malaria irgendwie menschenverachtend zu sein.

Herkules, der einen Giganten tötet von einem Tempel von Paestum.
Kämpfen und Siegen. Ein häufiges Motiv in der Kunst der Griechen in Paestum

Magna Grecia – Großgriechenland

Zeitsprung. Schon vor über 2500 Jahren war die Sele-Ebene Einwanderungsland. Aber damals sah es hier ganz anders aus. Die griechischen Einwanderer kamen nicht als Wanderarbeiter. Sie kamen, um zu bleiben, sie kamen mit dem Ziel, von der Fruchtbarkeit der Landschaft zu profitieren, sie errichteten eine blühende Stadt. Vor deren Trümmern stehen die Reisenden heute mit offenen Mündern und staunen. Ein, zwei Stunden. Dann sind sie wieder weg.

In Paestum beginnt die legendäre Magna Grecia, Großgriechenland. Ein Land, das in längst vergangenen Zeiten die Fantasie der hungrigen Griechen beflügelte. Vom Tellerwäscher zum Millionär. In Paestum war nichts unmöglich.

Die gefährliche Reise über das Mittelmeer zu neuen, unbekannten Ufern machten die Griechen vor 2500 Jahren aus ähnlichen Gründen, die Flüchtlinge heute über das Mittelmeer treiben lassen: Krieg, Hunger, wirtschaftliche Not, religiöse und politische Konflikte. Aber die Griechen kamen hochqualifiziert und bestens ausgebildet. Sie kamen als Sieger. Der damals einheimischen italischen Bevölkerung militärisch und kulturell haushoch überlegen.

Selbstmords des Helden Ajax, Metope von einem Tempel in Paestum.
Der Tod des trojanischen Helden Ajax. Selbstmord mit dem Schwert

Die Tempel von Paestum

Geblieben von den Griechen sind die Tempel von Paestum. Und einige hübsche, buntbemalte Vasen im Museum. Tatsächlich stehen die Tempel “groß und hehr“. Als Landmark-Buildings künden sie von dem enormen Selbstbewusstsein der antiken griechischen Stadt. Sie zu bauen war sicherlich ein aberwitzig kompliziertes Unterfangen. Allein die gigantisch großen Kalksteinblöcke und Säulentrommeln zu transportieren und aufzuschichten war ganz bestimmt wahnsinnig viel Arbeit. Und dann noch so solide. Die Architekten haben die Tempel von Paestum anscheinend für die Ewigkeit gebaut.

Mich allerdings lassen diese riesigen Gebäudemassen erstaunlich kalt. Dabei ließe sich vor den Tempeln von Paestum bestimmt bestens über Schönheit, Harmonie und Ewigkeit nachdenken und philosophieren. Oder? Mir geht es anders. Es stellt sich einfach kein vernünftiger Gedanke ein. Es stellt sich einfach nur ein blödes Rauschen ein: Abakus, Echinus, Kannelur, Entasis, Metope, dorischer Eck-Konflikt. Humanistischer Bildungsballast. Wer braucht das noch in dieser gottverlassenen, doppelgesichtigen und widersprüchlichen Landschaft, in der die Tempel von Paestum stehen?

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Wandmalerei mit Gladiatorenkampf.
Gladiatoren beim blutigen Faustkampf. Ausmalung eines samnitischen Grabes in Paestum